Jossi Wieler, Sergio Morabito und Giuliano Carella holen in der Stuttgarter Oper aus Händels „Ariodante“ alles heraus.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Rein ritterromantechnisch gesehen ist es eine einfache Geschichte: Ariodante, kurz vor der Heirat mit Prinzessin Ginevra, wird von einem männlichen Rivalen, dem standeshöheren Polinesso, mit Fake News über deren angebliche Untreue konfrontiert. Ariodante will sterben, derweil ein Ritual (das „schottische Gesetz“: zwei Männer schlagen sich, die Ehre der Frau steht auf dem Spiel, der Gewinner darf sie auslösen), und eine an der Intrige beteiligte Freundin von Ginevra, Dalinda (Servicekraft und prinzipiell gute Seele), dafür sorgen, dass die Dinge wieder ins Lot geraten, und die Unschuld als solche gefeiert werden kann: Friede, Freude, Hochzeitskuchen.

 

„Ariodante“ also, fast vierstündige Oper aus der Londoner Serienproduktion des damaligen Gastarbeiters, Komponisten und Eventveranstalters Georg Friedrich Händel von 1735. Sagt uns das alles noch was? In Stuttgart allemal. Und wie? Auf gleich mehreren Ebenen.

Erfahrenere Besucher des Stuttgarter Großen Hauses haben die Möglichkeit, an einen surrealen Traum anzuknüpfen, mit dem die Regisseure und Dramaturgen Jossi Wieler und Sergio Morabito 1998 hier vor Ort ihr Händel-Debüt gaben: „Alcina“. Aus dieser Partitur weht im zweiten Teil von „Ariodante“ noch einmal ein Teil hinüber – als Ginevra von ihren Qualen singt – und der umsichtige Dirigent Giuliano Carella , der aus dem Handgelenk instrumental-dynamische Kontraste mit dem tollen Staatsorchester schütteln kann, integriert die flirrend-entrückte Stelle just da, wo sie mal hingehörte und von Händel entfernt und für eine Wiederverwendung (eben in der folgenden „Alcina“) gehortet wurde. Zwei Stücke werden musikalisch eins.

Es wird Licht wie noch nie

Inszenatorisch indes leben die „Alcina“ von damals und die „Ariodante“ von heute in denkbar starkem Kontrast, und das hat nicht nur damit zu tun, dass Wieler und Morabito mittlerweile fast zwanzig Jahre mehr gemeinsame Erfahrung mitbringen. Ein Traumspiel gäbe „Ariodante“ nicht her. Wohl aber gibt das Stück – thematisch angelehnt an Ariosts „Rasenden Roland“, dessen geradezu liberale Ansichten zu Zeiten der Renaissance allerdings von Händels Librettisten Antonio Salvi fast zweihundert Jahre später im Sinne der Gegenreformation gewissermaßen zensiert werden – Anlass, ein Lieblingsthema des Stuttgarter Gespanns virtuos zu variieren: Wie viel Theater steckt im Theater? Wie viel Wirklichkeit? In welchem Verhältnis steht das eine zum anderen? Und: Wie wichtig ist der Laborraum Oper? Es sind Fragen, die sich das spektakelnde, im Grunde aber behäbige Bauchtheater manch anderer Regisseure häufig nicht stellt. Ihnen reicht ein (meist auf sich selbst bezogenes) Gefühl. Wieler und Morabito hingegen lassen die Gefühle über die Relaisstation Gehirn laufen, gleich doppelt. So bekommen sie: Gehalt.

Der Clou ist, dass man die Aufführung ohne und mit theoretischem Überbau gleichermaßen hochgespannt verfolgt. Im ersten Fall lässt sie sich als auf den ersten Blick einleuchtende, psychologische Action-Studie über Trieb und Triebabfuhr lesen: Vom ersten Auftritt an, bei dem es so glanzvoll Licht wird, wie es noch nie Licht geworden ist in der Stuttgarter Oper (verantwortlich: Voxi Bärenklau) kommen da Menschen von heute in eine Arena (Bühnenbild und Kostüme: Nina von Mechow), um ihr Terrain abzustecken, spielerisch, die ihre Rolle finden und sich darin allmählich einrichten. Wenn die jeweilige Individualität später dramatisch ins Wanken gerät, erfolgt öfter ein Blick in den dreiteiligen Spiegel am Bühnenrand: eine Weile lang lässt sich jedes Gesicht anlassgemäß einigermaßen richten. Sobald aber das Innere bloß liegt (Stück für Stück hat die Regie die Verkleidung radikal wieder abgetragen), streifen die Figuren Masken über: als seien sie sich selbst nicht mehr geheuer. Das Ende korrespondiert mit dem Anfang. Nun trägt das Ensemble historische Kostüme der Händel-Zeit, dessen versöhnlichem „Ariodante“-Schluss gleichwohl keinesfalls zu trauen ist: unschuldig ist hier, im einfachen wie im übertragenen Sinn, keiner mehr.

Vollbärtig, im Rapper-Wiegeschritt

Mit nicht nachlassender Sorgfalt arbeitet die Produktion bis dahin am Detail, und besonders viele Nuancen gewinnt sie dabei der schwärzesten Gestalt ab, Polinesso – besetzt mit dem Countertenor Christophe Dumaux: vollbärtig, im Rapper-Wiegeschritt entert er die Bühne. Ein Finsterling, vordergründig. Bei der Händelschen Uraufführung war Polinesso eine Altistin und Ariodante ein Mezzosoprankastrat, aber Händel selbst drehte ja die Verhältnisse, wie er wollte. Hier und heute nun sorgt die Stimmlage Polinessos fast wie von selbst schon für seine Außenseiterrolle. Außer für Dalinda geht für keinen ein Reiz aus von diesem aggressiven Mann, der ein doppeltes Gesicht hat. Nicht von ungefähr hält Polinesso ständig eine Kamera in der Hand, mit der er die Szene in ein andere Form überführt: er macht Kunst daraus. Theater ist ihm eine Art von Therapieersatz.

Stets vorbildlich, am eindrucksvollsten zuletzt in den „Puritani“ zu Ende der letzten Spielzeit, ebenfalls so dringlich wie eingängig dirigiert von Carella, ist der Ensemblegeist am Stuttgarter Haus. Bei „Ariodante“ jedoch scheinen die Klänge und Konstruktionen noch mehr miteinander zu verschmelzen als üblich: auf breit barockem Fundament, transparent in den Höhen und nie ermüdend in den Koloraturen entfalten sich nicht nur die von 2011 an in „Alcina“ eingeübten Ana Durlovski (Ginevra) und Diana Haller (Ariodante), auch schauspielerische Glücksfälle jede für sich. Daneben, nicht dahinter, behaupten sich in Rollendebüts Josefin Feiler (Dalinda), Sebastian Kohlhepp (Lurcanio) und Philipp Nicklaus (Odoardo). Matthew Brook ist ein sehr solider König.

Rezitationen von Fremdtexten haben an der Stuttgarter Oper seit Hans Neuenfels‘ „Entführung“, die mit Mörikes „Denk es, o Seele“ endete, Tradition. In „Ariodante“ aber ist der Text nicht Zugabe, sondern stilprägendes Element. Dreimal distanziert sich Polinesso, in erhabenem Französisch Jean-Jaques Rousseau zitierend, der 1758 im „Brief an d’Alembert über das Schauspiel“ eindringlich vor der Theatralisierung der Frau auf der Bühne und der Theatralisierung der Öffentlichkeit überhaupt warnt. Ersteres führe zu Prostitution und Entehrung, letzteres bringe die Republik in Gefahr. Was auch ohne das Programmheft einfach als szenischer Kontrapunkt zu anfänglich viel schöner Ausgelassenheit begriffen werden kann, lässt sich nur nach Studium der Aufsätze darin wirklich nachvollziehen. Man wird das alles wohl mal schwer vermissen, wenn Wieler/Morabito-Inszenierungen auf diesem hohen Abstraktionsniveau nicht mehr die Regel in Stuttgart sind. Noch aber gilt: Läuft bei denen!