Mit Musik die trennenden Mauern überwinden. Ein Opernprojekt soll den Menschen in der Ostukraine ein kleines Stück Hoffnung wiedergeben.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Sewerodonezk - Olena Sabara hat ihr bestes Kleid aus dem Schrank geholt. Dazu ein tiefer Griff in die Puderdose und dicker Lippenstift. „Dieser Abend ist etwas ganz Besonderes“, flüstert die betagte Dame, sie fühle sich fast wie früher. Damals, als die Sowjetunion noch existierte, saß die ehemalige Lehrerin mit ihrem Mann oft im bequemen Sessel im Theater von Sewerodonezk. „Was haben wir uns nicht alles angesehen“, seufzt sie und schwelgt für einige Sekunden lächelnd in ihren Erinnerungen. Jetzt hat Olena Sabara es sich auf einer Holzpalette vor dem Kulturpalast so bequem wie möglich gemacht. Die Abendsonne spiegelt sich in einer kleinen goldenen Brosche, die sie sich sorgfältig an ihr Kleid geheftet hat. Das Schmuckstück lässt sich aufklappen, zum Vorschein kommt das Bild ihres verstorbenen Mannes.

 

Mozart-Oper auf dem Aufmarschplatz

„Ist die Musik nicht herrlich?“ Das ist keine Frage, sondern eine Feststellung. Immer wieder schließt Olena Sabara die Augen und lauscht. Auf der Gegenseite des Friedensplatzes im Stadtzentrum der 100 000-Einwohner-Stadt Sewerodonezk ist eine riesige Leinwand aufgebaut, aus den Lautsprechertürmen tönt Musik: Mozarts „Don Giovanni“. Einige Hundert Meter weiter wird die Oper im frisch renovierten stalinistischen Theaterhaus aufgeführt, gleichzeitig wird sie im Freien übertragen. „Ich habe keine Karte mehr bekommen“, flüstert Olena Sabara. Sie hätte gerne live miterlebt, was „diese jungen Menschen“ da auf die Bühne bringen.

„Diese jungen Menschen“, wie Olena Sabara sie nennt, sind ein wild zusammengewürfelter Haufen von jungen Künstlern. Aus Deutschland, Litauen, Polen und natürlich aus der Ukraine sind sie nach Sewerodonezk gekommen, um in einem unglaublichen Kraftakt mit über 100 Akteuren Mozarts Oper auf die Bühne zu bringen. So viele Menschen zusammenzutrommeln schien anfangs unmöglich, da viele der Künstler mit tragenden Rollen ein Engagement an anderen Bühnen haben. Nach monatelanger Vorarbeit wurde schließlich vor Ort sieben Wochen geprobt, organisiert und am Bühnenbild gezimmert, bevor Anfang September vier ausverkaufte Vorstellungen auf dem Spielplan standen.

„Es war eine wahnsinnige Erfahrung“, sagt Konstantin Krimmel. Der junge Bariton hat an der Musikhochschule in Stuttgart Gesang studiert. „Es ist ziemlich verrückt, dass viele der ukrainischen Musiker und Sänger vor dem Krieg in der Ostukraine fliehen mussten und nun in Sewerodonezk eine neue musikalische Heimat finden“, so Krimmel. Ihn hat erstaunt, dass am Ende alle so gut und reibungslos zusammengearbeitet haben.

Musikalisches Kleinod im Krisengebiet

Kopf, Seele und Herz des Projektes ist Peter Schwarz. „Mit unserem Projekt wollen wir die einfachen Menschen erreichen“, sagt der Berliner, der sein Leben der Völkerverständigung verschrieben hat. Er ist einer jener Netzwerker, die mit ihrer schier unbändigen Energie und Überzeugungsgabe Menschen begeistern und vor allem auch Geld auftreiben können. Für sein „Don Giovianni“-Projekt hat er viele Geldtöpfe angezapft, unter anderem beim Auswärtigen Amt, der Konrad-Adenauer-Stiftung oder dem Land Baden-Württemberg. Das Motto in der Ostukraine heißt: „Musik überwindet Mauern“.

Die jungen Menschen verlassen die Stadt

Wer durch Sewerodonezk spaziert, bekommt eine Ahnung, was damit gemeint ist. Man sieht eine künstliche Stadt, gebaut um ein einst riesiges Chemiewerk herum. Doch die Größe von einst existiert nur noch in der Erinnerung der Menschen, das Werk zerfällt ebenso wie viele Häuser in der Stadt. „Die jungen Menschen verlassen die Region“, klagt die stellvertretende Gouverneurin Olya Lishyk. Der Krieg in der Ostukraine habe die Lage noch schwieriger gemacht. An der nahen Front komme es fast täglich zu Gefechten. Vor vier Jahren war Sewerodonezk einige Tage von prorussischen Kämpfern besetzt, wurde dann aber wieder von ukrainischen Truppen befreit. Nun liegt die Stadt in der sogenannten grauen Zone, nur rund 20 Kilometer von der Grenze zu den Rebellengebieten entfernt. Der nahe Krieg hat sich lähmend über alles gelegt: über die Wirtschaft, das Leben, die Hoffnung der Menschen.

Und dann kommt plötzlich „Don Giovanni“. Ein Tross von über hundert jungen Menschen, mit dem das Leben Einzug hält in der Stadt. Für Peter Schwarz ist Sewerodonezk der richtige Ort für „Don Giovanni“. „Ein Thema der Oper ist die Auseinandersetzung des Individuums mit der Gesellschaft“, erklärt der Berliner Kulturmanager. „Zu Beginn gibt es eine stabile Gesellschaft, jeder findet darin seinen Platz. Dann kommt Don Giovanni und bringt alles durcheinander, und jeder muss sich fragen, nach welchen Regeln er lebt.“ Das sei im Grund die Situation vor vier Jahren in Sewerodonezk gewesen, als der Krieg über die Stadt hereinbrach. „Plötzlich wusste keiner mehr, wo sein Platz in der Gesellschaft war, und jeder musste für sich entscheiden, nach welchen Regeln er leben wollte.“ Zum größeren Verständnis des Stückes trug auch bei, dass die Regisseure die Handlung in die Zeit der postsowjetischen Bandenherrschaft und einer von der Mafia unterwanderten Gesellschaft verlegten. Ein in weiten Teilen der Ukraine durchaus alltäglicher Zusammenhang.

Nach der Oper kommt der Punk

Den Organisatoren des Opernprojekts kam zupass, dass nach der Besetzung der Region um die Stadt Luhansk durch prorussische Kämpfer ein Teil der dortigen Theatermannschaft in Sewerodonezk eine neue Heimat fand. Schwieriger als erwartet gestaltete sich allerdings der künstlerische Austausch mit den Menschen aus den besetzten Gebieten jenseits der Frontlinie. Der Grenzübertritt war am Ende zu kompliziert, und keine der beiden Seiten hatte wirklich ein Interesse daran, konstruktiv zusammenzuarbeiten. Musiker oder Sänger, die in der besetzten Stadt Luhansk wohnen, fehlen deshalb im „Don Giovanni“-Projekt. Die Hoffnung der Idealisten, mit ihrer Musik Mauern zu überwinden, zerschellte an der Uneinsichtigkeit und Hartleibigkeit der Kriegsparteien.

Ruhe mitten im Krisengebiet

Peter Schwarz hält das Projekt dennoch für lehrreich – nicht nur für die Menschen in der Ukraine. „Es ist gut für jeden Europäer, einmal in diese Region zu kommen“, unterstreicht er. „Es ist verstörend zu sehen, wie eine Gesellschaft auseinanderbricht.“ Immer wieder habe er bei den Gesprächen mit den deutschen Teilnehmern gehört, dass sie nach dieser Erfahrung in Sewerodonezk wieder zu schätzen wüssten, im Frieden zu leben. Auch seien viele erstaunt, mit wie wenig ein Mensch zufrieden sein kann – ohne Clubs, Kinos oder abendliche Zerstreuung.

Für Peter Schwarz war es das Größte, nach einem anstrengenden Probentag in einem kleinen See am Stadtrand von Sewerodonezk zu baden, um Gemüt, Geist und Körper abzukühlen. Über ihm die strahlende Sonne, der unglaublich blaue Himmel, er selbst träge und zufrieden im lauen Wasser dümpelnd. Ein alter Mann habe ihm beim Baden eines Abends erzählt, dass der See einmal das Abwasserbecken des nahen Chemiewerks gewesen sei. Peter Schwarz ist dennoch im Wasser geblieben. Es sei einer jener seltenen und schönen Augenblicke im Leben gewesen, die nicht zu enden schienen: absolute Ruhe mitten im Krisengebiet.