Viele Opfer exhibitionistischer Handlungen rufen nicht die Polizei. Eine Rolle spielen Geschlechterstereotypen, welche dazu führen, dass die Taten oft von den Frauen selbst und deren Umfeld bagatellisiert werden.

Stuttgart - Kira Digel (Name geändert) geht die Böschung hinunter zum Neckar und wäscht sich ihre schwarz verschmierten Hände. Die junge Frau hat gerade ihre Fahrradkette neu eingespannt und will zurück zu ihrem Rad. Als sich die 21-Jährige umdreht, entdeckt sie einen älteren Herren, ein paar Meter weiter auf dem Radweg. Er hat seine Genitalien entblößt und schaut sie eindringlich an. Digel ist für einige Sekunden perplex, sammelt sich und geht direkt auf den Mann zu. Der Unbekannte macht zunächst keine Anstalten seine Hose hoch zu ziehen. Erst als Digel ihn anspricht, fährt der Mann mit seinem Rad davon.

 

Viele Täter bleiben ungestraft

Der geschilderte Vorfall ereignete sich an einem viel befahrenen Radweg im Neckartal. Digel hat keine Anzeige erstattet, der Exhibitionist kam ungeschoren davon. Die Dunkelziffer bei Exhibitionismus ist hoch. Warum Digel nicht direkt die Polizei rief? „Weil die den Typen höchstwahrscheinlich sowieso nicht finden“, glaubt die junge Frau. Sie wisse zudem überhaupt nicht, wofür der Täter denn bestraft werden könne. Außerdem passiere so etwas doch ständig. Der Vorfall am Neckar war nicht Digels erstes Erlebnis dieser Art – und ist auch sonst kein Einzelfall.

Mehr als die Hälfte aller Frauen in Deutschland sind im Laufe ihres Lebens mindestens einmal sexuell bedrängt oder belästigt worden. Sexuelle Belästigung in allen möglichen Formen ist Alltag. Wer anzügliche Blicke und Bemerkungen gewohnt ist oder körperliche Übergriffe erlebt hat, neigt dazu, exhibitionistische Handlungen wie in Digels Fall herunter zu spielen. „Viele Frauen versuchen darüber hinweg zu sehen, um sich erst gar nicht belästigt zu fühlen“, sagt Marion Römmele von der Stuttgarter Frauenberatungsstelle Fetz.

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Auch eine Anzeige fällt vielen Opfern schwer. Warum das so ist? Manchmal sei die Situation nicht so eindeutig wie bei Entblößung, berichtet Fetz-Mitarbeiterin Römmele. Und nicht immer ist Exhibitionismus sofort als solcher erkennbar, sondern wird als geringfügig interpretiert: „Pinkelt da einer nur im Gebüsch oder onaniert er?“ Dazu kommt der Schock, den viele Frauen im ersten Moment erleben. Vor allem, wenn sie die Gefahr einer Situation nicht einschätzen können.

Eine hundert Prozent männliche Straftat

„Es kann dauern, bis eine Person wieder zu sich kommt und erkennt, das ist wirklich passiert“, sagt Römmele. Auf diese reflexartige und „rein physiologische Reaktion“ haben viele Frauen keinen aktiven Einfluss, weshalb bei Opfern auch im Nachhinein oft ein Gefühl von Unwirklichkeit bleibt.

„Exhibitionismus ist die einzige Straftat, die ausschließlich Männer begehen können“, weiß Monika Ackermann, Sprecherin der Polizei Stuttgart. Im Strafrecht wird außerdem zwischen sexueller Belästigung und Exhibitionismus unterschieden. Exhibitionistische Handlungen bilden im Strafgesetzbuch einen eigenen Paragrafen und werden mit Geldstrafen sowie bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft. Die Polizeisprecherin rät Vorfälle, wie Digel ihn erlebt habt, auf jeden Fall und so schnell wie möglich zur Anzeige zu bringen. „Im Zweifel auch im Nachhinein immer die Polizei verständigen“, sagt Ackermann.

Exhibitionisten sind oft Wiederholungstäter

Es gelte das Zeichen zu setzen, dass Exhibitionismus in keiner Weise toleriert werde. Außerdem sei eine Personenbeschreibung immer nützlich, denn: „Exhibitionisten treten in vielen Fällen wiederholt auf.“ Bei solchen Straftaten gehe es zudem um das Allgemeinwohl, sagt Ackermann. Andere Frauen und Kinder könnten geschützt werden. „Wer in der Öffentlichkeit bewusst vor Frauen onaniert und ungestraft bleibt, könnte sich ermutigt fühlen, das nächste Mal sogar einen Schritt weiter zu gehen“, so die Polizeisprecherin.

Für viele Opfer bedeutet eine Anzeige immer noch eine große Überwindung. „Eine Anzeige kostet Zeit und Aufwand“, sagt Römmele von der Frauenberatungsstelle. „Deswegen versuchen wir neutral zu beraten, denn am Ende muss die Frau mit den Folgen umgehen.“ Zwar heißen es die Beraterinnen gut, wenn möglichst viele Vorfälle angezeigt werden. Römmele betont aber: „Wenn eine Frau sagt, es geht gerade nicht für mich, dann ist das vollkommen in Ordnung.“

Geschlechterstereotypen als Barriere

Die Diplom-Pädagogin Römmele weist auf eine weitere Problematik hin, die Frauen bei dem Erkennen und Anzeigen von sexuellen Übergriffen in Konflikte bringt. „Mädchen werden dazu erzogen, nach außen immer freundlich zu sein, und das nutzen bestimmte Männer gezielt aus.“ Studien hätten bewiesen, dass Exhibitionisten und Sexualstraftäter die Freundlichkeit von weiblichen Opfern zur Grenzüberschreitung missbrauchen. „Wehrhafte Frauen dagegen gelten schnell als zickig oder herrisch“, sagt Römmele.

Zusätzlich gebe es immer noch den Mythos, dass eine Frau zu einem Vorfall irgendwie beigetragen hätte. Zum Beispiel Angehörige, die als erstes mit „Das war doch nicht schlimm.“ oder „Wieso hast du dich nicht gewehrt.“ reagieren. „Das gibt wieder einen Teil der Verantwortung an die Betroffene ab und stigmatisiert Opfer“, erklärt Römmele. Solche Geschlechterstereotypen trügen dazu bei, dass die eigene Opferrolle nach exhibitionistischen Handlungen von Frauen hinterfragt würden. Das sei ein großes Problem – auch bei sexueller Belästigung in Form von Blicken, Bemerkungen oder vermeintlich unbeabsichtigten Berührungen.

Das Frauenberatungs- und Therapiezentrum Fetz e.V. bietet seit 1991 in Stuttgart eine kostenlose psychologische Beratung und Therapie für Frauen an. Dazu gehören die Beratung und Information nach Vergewaltigung und sexuellen Übergriffen sowie die Beratung für lesbische und bisexuelle Frauen oder Mädchen. Während den Corona-Beschränkungen ist das Fetz unter 0711/2859001 sowie der Mailadresse info@frauenberatung-fetz.de erreichbar.