Roger Norrington und Manfred Honeck: zwei prägende Dirigenten nehmen Abschied von Stuttgart.  

Stuttgart - Trotz wackerer Musikmeister wie Neville Marriner und Georges Prêtre an der Spitze hat kein Dirigent den Namen des Radio-Sinfonieorchesters des SWR so in die Welt getragen wie Roger Norrington, der nun am 25. Juli in London sein letztes Konzert als RSO-Chef leitet. Selbst Sergiu Celibidache, der von 1972 bis 1982 künstlerischer Leiter der Stuttgarter gewesen ist, zog am Ende die Aufmerksamkeit mehr auf sich, den intellektuellen Charismatiker, als auf das Musikerkollektiv. Mit Roger Norringtons Antritt 1998 änderte sich das.

 

Der Engländer, der seit Jahren auf Frack und Lackschuhe verzichtet und gelegentlich in Socken auf dem Podest steht, hat das RSO zwar zu seinem Instrument geformt und ihm doch gerade dadurch ein individuelles, weithin wahrgenommenes Gesicht gegeben; in Marketingdeutsch: mit Sir Roger bekam das Orchester ein Alleinstellungsmerkmal. Das ist heute so rar wie eine Brünnhilde, die ihren Part nicht nur durchsteht, sondern auch gestalterisch erfüllt, und doppelt schwer, wenn man nicht auf eine Tradition zurückblickt wie die Philharmoniker aus Berlin, Wien und New York, eine gewachsene Klangkultur besitzt wie das Concertgebouw Orkest Amsterdam oder technisch unanfechtbare Turbomusiker in seinen Reihen aufweist, wie sie in den Londoner Orchestern sitzen.

Nach Widerstand und Besucherschwund kam der Erfolg

Der 1934 in Oxford geborene Norrington hat Erkenntnisse der sogenannten historischen Aufführungspraxis mit einer Konsequenz auf ein konventionelles Sinfonieorchester übertragen, die im rotierenden Musikzirkus selten ist. Hinzu kam der Stempel der Individualität ("Stuttgart Sound"). Die Heroen der Aufführungspraxis gestalten ihre Entdeckungsreisen voran in die Vergangenheit etwas anders: Nikolaus Harnoncourt verteilt seine Arbeitszeit auf mehrere Orchester, John Eliot Gardiner arbeitet bevorzugt mit dem eigenen Orchestre Révolutionnaire et Romantique.

Roger Norringtons Bindung an das 1945 gegründete Stuttgarter Orchester hat sich am Ende als segensreich für beide Seiten erwiesen. Das war vor 13 Jahren nicht unbedingt abzusehen, wie Felix Fischer, der RSO-Orchestermanager, betont: Ob der "radikale Reformer und Individualist" mit einem durchorganisierten Gebilde wie einem Rundfunkorchester nicht zusammenpassen würde, war die Frage. Dass Norrington mit seinen Vorstellungen beim RSO erfolgreich war, hat nicht wenig mit dem während seiner Ägide stattfindenden Generationswechsel unter den Musikern zu tun.

Anfangs gab es Widerstand gegen das Non-Vibrato-Spiel, die konsequent schlanke - manche sagten: anämische - Tongebung, die strukturbetonte Organisation sinfonischer Formen im großen Repertoire von Haydn und Beethoven bis Tschaikowsky und Mahler. Auch beim Publikum herrschte Unruhe, die Besucherzahlen gingen zurück. Doch mit den Erfolgen, internationaler Aufmerksamkeit, den Tourneen und CDs fand der Dirigent in der Stadt seine Liebhaber und treuen Abonnenten, die Zahlen stabilisierten sich. Die Möglichkeit, ein künstlerisches Vermächtnis in Gestalt von Rundfunk-, Fernsehproduktionen und CD-Veröffentlichungen zu schaffen, dürfte übrigens eine Hauptattraktion für Norrington gewesen sein, sich so lange und recht exklusiv ans RSO zu binden.

Manfred Honeck polierte den Orchesterlack

Über Widerstand der Musiker oder ausbleibendes Publikum hat sich Manfred Honeck seit seinem Debüt beim Württembergischen Staatsorchester im März 2005 nie beklagen müssen - bis heute stiegen die Besucherzahlen um zehn Prozent. Dieses eine Konzert genügte, um den 1958 geborenen Österreicher zum Favoriten bei der Suche nach einen Nachfolger für Lothar Zagrosek zu machen. Tatsächlich einigte sich Honeck bald mit dem Opernchef Albrecht Puhlmann und trat sein Amt als Generalmusikdirektor zur Spielzeit 2007/08 an - ohne eine einzige Oper in Stuttgart dirigiert zu haben. Ein Risiko, dem Sprengkraft innewohnte, wie sich später erwies.

Zunächst ließ sich die Arbeit bestens an. Nach klangkargen Jahren eckiger Verkehrsregelung durch Zagrosek blühte das Orchester auf. In gewisser Weise ein Gegenmodell zu Norrington, polierte Manfred Honeck den Orchesterlack auf, brachte - was ihm als Geiger und Bratscher leichtfiel - Ordnung ins Streicherkorps, tüftelte an Valeurs und Vibrato, zauberte mit Bogenstrichen und Phrasierungen eine Ahnung von k.-u.-k.-herrlicher Klangkultur, wie sie in Wien gepflegt wird. Der langjährige Philharmoniker Honeck erschien vielen als Abgesandter direkt vom Musikolymp.

Den distanzierten Pultmagier geben beide nicht

Kein Wunder, dass sein Repertoire sich aus dieser Tradition speiste: Mozart, Beethoven, Bruckner, Brahms und vor allem Mahler, den er zyklisch anging; die erste, zweite und dritte Sinfonie sowie zum Abschied das Adagio der Zehnten hat er dirigiert, die Sechste folgt in der neuen Spielzeit, dann ist Honeck nurmehr Gast. Gerade bei Mahler manifestierte sich in der Perspektive auf Norrington die deutlich andere Herangehensweise. Trotz aller Detailarbeit ging es Honeck am Ende um Transzendenz, um eine musikalische Ikonografie, die - mit aller Vorsicht formuliert- religiöse Dimensionen nicht ausschloss.

In zwei Dingen treffen sich Norrington und Honeck. Den distanzierten Pultmagier geben sie nicht, sie sind umgänglich und kommunikativ, Norrington etwas empfindlicher gegen Kritik als der Jüngere. Und beiden geht Nähe zu wirklich Zeitgenössischem ab. Ihre Novitäten waren substanziell meist so schwach, wie sie in der Ästhetik rückwärtsgewandt wirkten.

Puhlmanns Ende als Intendant bedeutete das Aus für Honeck, der dem Nachfolger Jossi Wieler zu wenig Musiktheatermann ist, sprich: zu wenig eigene Zeit für szenische Proben einräumt. Honecks Opernbilanz ist tatsächlich gemischt: "Idomeneo", "Parsifal", zuletzt Poulencs "Dialogues" gelangen auf hohem Niveau. "Aida", "Lohengrin", speziell die "Fledermaus" enttäuschten: ein echter Sängerdirigent ist Honeck nicht. Dem 52-Jährigen bleibt viel Zeit - Dirigenten reifen langsam. Norrington mit 77 steht an der Schwelle zum altersweisen Guru. Denen sieht man vieles nach.

Die Termine

Finale Roger Norrington verabschiedet sich mit Mahlers Neunter am 21. und 22. Juli in der Stuttgarter Liederhalle. Das letzte Konzert als Chef dirigiert er bei den Londoner Proms in der Royal Albert Hall am 25. Juli (Übertragung am 26. in SWR2 um 20.05 Uhr). In der Spielzeit 2012/13 gastiert er als RSO-Ehrendirigent. 

Tournee Manfred Honeck ist seit 2008 Chefdirigent des Pittsburgh Symphony Orchestra. Am 26. August beginnt er mit dem Orchester eine Europatournee, die am 3. September in Luzern endet.

Termine www.ks-gasteig.de