Umbruch auf der Schillerhöhe: In Marbach zeigt der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk zwei Wege durch die Landschaft großer Romane.
Stuttgart - In Marbach könnte sich einem leicht der Verdacht aufdrängen, alles sei schon gesagt. Wer dem noch etwas hinzuzufügen trachtet, schiebt eine Bugwelle immer wieder abgehandelter Themen und Ideen vor sich her. Denn wer könnte es sich heute noch leisten, einfach darauflos zu plaudern, um, sagen wir, ein paar Fragen elementaren Interesses zu beantworten, jene etwa, warum Romane sein müssen, und was mit uns passiert, wenn wir sie lesen? Entweder ein hoffnungslos Naiver, der keine Scheu trägt, das, was ihm in seinem Leselehnstuhl widerfährt, zum Maßstab der erzählten Welt zu machen. Oder jemand, hochgradig reflektiert, der für das Leben nur noch ein Auge hat, sofern es sich ihm im Abglanz der Theorie präsentiert. Jener würde uns möglicherweise unterhalten, ohne dass wir ihm Glauben schenkten. Und diesem würden wir gerne alles abnehmen, wenn wir es nur verstünden.
Eine Schillerrede würde man von beiden aber wohl lieber nicht hören wollen. Da blätterte man doch lieber gleich noch einmal in Schillers Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung“, um Grundlegendes über die Möglichkeiten und Grenzen dieser zwei Typen oder deren Haltungen zu erfahren.
Der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk hat genau dies getan. Das Ergebnis ist eine 2009 an der Harvard University vorgetragene Vorlesungsreihe, die in diesem Jahr auf Deutsch erschienen ist („Der naive und der sentimentalische Romancier“, Hanser Verlag) und eine Schillerrede, die dem Marbacher Genius Loci nicht nur pflichtschuldig Reverenz erweist, sondern auf eigenwillige Weise zusammenführt, ja geradezu verkörpert, was dessen gediegenes Antithesenwesen streng trennt: naiv-lebendige Gegenwart und sentimentalisch-distanzierte Reflexion.
Marbach öffnet sich der Weltliteratur
Pamuks Rede ist wohl die erste zu diesem Anlass, die nicht in der Sprache des Widmungsträgers gehalten wird, sondern auf Englisch. Ein weiteres Zeichen für einen Umbruch auf der Schillerhöhe, wie ihn der neue Präsident der Schillergesellschaft, Peter-André Alt, in seiner Dankesadresse an seinen Vorgänger Manfred Erhardt benennt. Eine Öffnung zur Weltliteratur, leider mit dem bedauerlichen Nebeneffekt, dass man einen Begriff von Pamuks wohlgestalten Ausführungen eher von der schriftlichen Übersetzung empfängt als von seinem hastig dahingeschnarrten Ringen mit der englischen Sprache. Für sich betrachtet eine Demonstration sentimentalischer Vermittlung.
„Wer über die Bezüge zwischen Kunst, Literatur und Leben spekulieren möchte, für den ist Schillers berühmtes, und wie ich meine, amüsantes Traktat eine wahre Fundgrube“, sagt Pamuk sinngemäß. Amüsant – so dürfte dieses hochkomplexe Gedankenmahlwerk, in dem Schiller mit unerbittlichem Scharfsinn den Stoff einer Literatur der Zukunft umgewälzt hat, selten beschrieben worden sein. Eher trifft dieses Beiwort den Charakter von Pamuks schriftlicher Rede. Nicht nur, weil er mit den Pfunden einer mehrhundertjährigen gattungspoetischen Tradition so leichthändig jongliert, dass man jeden seminaristischen Schwermut darüber völlig vergisst. Sondern vor allem, weil er tut, was man von einem Romancier erwartet: er erzählt.
Wo Pamuks Kollegen in der derzeit populären Disziplin der Poetikvorlesung häufig altklug dilettieren, besinnt er sich auf seine Kernkompetenz. Er erzählt davon, was ihm widerfuhr, wenn die Romanwelt ihn als Jugendlichen in sich hineinzog, wie die elterliche Umgebung sich im Bewusstsein verflüchtigte, die Geräusche aus der Ferne herübertönender Dampfersirenen zurücktraten, und sich stattdessen Wort für Wort das Fenster in eine neue Welt öffnete, gleich dem Blick über das Schlachtfeld von Borodino in Tolstois „Krieg und Frieden“. Pamuk erzählt, warum sich Anna Karenina im Nachtzug nach Sankt Peterburg nicht auf ihr Buch konzentrieren kann. Und er erzählt von einem jungen Mann in Istanbul, der ursprünglich Maler werden wollte, dann aber in den „Landschaften“ der großen Romane seinen Gegenstand gefunden hat.
Die Landschaft des Romans
Landschaft, so nennt Pamuk jene zweite sinnerfüllte Wirklichkeit, deren Wesen von den in ihr Handelnden widergespiegelt wird. Sie ist gemacht und erfunden, aber gleichzeitig so real, dass man ihr einen Gedächtnisort widmen kann, wie das in diesem Jahr in der Istanbuler Altstadt eröffnete „Museum der Unschuld“. Pamuk dokumentiert darin das Leben der Figuren seines gleichnamigen Liebesromans in fiktiven Realien, von alten Kleidern, Fotos, Küchengeräten bis hin zu den Zigarettenstummeln, die seine Protagonistin geraucht hat. Ein fantastisches kleines Marbach am Bosporus. Kein Wunder, dass Ulrich Raulff, der Direktor des Deutschen Literaturarchivs, in seiner Einführung dafür gewissermaßen die ideelle Oberhoheit reklamiert, indem er den Gast kurzerhand zum Halbtagspraktikanten erklärt, der sich während eines früheren Besuches auffallend interessiert an den Geheimnissen der archivarischen und musealen Präsentationskunst gezeigt habe.
Vehikel des Weltverstehens
Umgekehrt fällt von Pamuks Museum auch ein eigenartig-belebendes Licht auf andere literarische Gedenkstätten, etwa Schillers Geburtshaus. Vielleicht stehen beide für jene dritte Dimension der Wirklichkeit, die der Autor für den Roman in Anschlag bringt: „die Fähigkeit, gleichzeitig unerschütterlich an zwei einander widersprechende Konzepte zu glauben.“
Romane sind für Pamuk Vehikel des Weltverstehens. Mit ihnen, so erläutert er, kann man umgehen wie ein Autofahrer, der sich der komplizierten Technik intuitiv bedient, um durch die Gegend zu rauschen. Man kann sich aber auch daranmachen, das Lenkrad, die schmutzige Scheibe und die Gangschaltung als Teil der Szenerie zu beschreiben, „damit wir nicht vergessen, inwieweit unsere Sicht durch die Perspektive des Romans eingeschränkt ist.“ Ins verborgene Zentrum der Romanlandschaft, dorthin, wo sich die innersten Geheimnisse des Menschseins zeigen, führen beide Wege, die naive Schnellstraße wie der sentimentalische Umweg. Welchen von beiden Pamuk nun genommen hat, wüsste man am Ende dieses Abends kaum mehr zu sagen.