Der neue Band der Schriftenreihe des Stadtarchivs Ostfildern befasst sich mit der Ruiter Ortsgeschichte von 1924 bis 1934. Darin wird deutlich, wie sich sich in dem von einer starken Arbeiterbewegung geprägten Ort schließlich doch der Nationalsozialismus etablieren konnte.

Ostfildern - Die Goldenen Zwanziger waren ein seltenes Phänomen der Großstadt, sagt der Ostfilderner Stadtarchivar Jochen Bender. Auf dem Land indes sei diese Zeit politisch und wirtschaftlich schwierig gewesen. Aber deshalb nicht weniger spannend, wie sich bei der Lektüre von Benders neuem Band zur Schriftenreihe des städtischen Stadtarchivs herausstellt. In diesem hat er sich mit der Orts-Chronik der damaligen Gemeinde und des heutigen Stadtteils Ruit auseinandergesetzt. Sie beschreibt die lokalen Geschehnisse der Jahre von 1924 bis 1934.

 

Subjektive Darstellung ins richtige Licht gerückt

Die historischen Aufschriebe der beiden damaligen Ruiter Lehrer Karl Schumacher und Karl Früholz sowie die geschichtliche Einordnung ihrer Aufzeichnungen durch Jochen Bender beschreiben das dörfliche Leben in der Weimarer Republik und im frühen Nationalsozialismus. Der Stadtarchivar beschreibt in dem rund 260 Seiten umfassenden Buch, wie sich in dem von einer überaus starken Arbeiterbewegung geprägten Ort schließlich doch der Nationalsozialismus etabliert hat: durch Zwang und Gewalt, durch die Faszination einer umfassenden Propaganda, aber auch durch die Hoffnung auf eine Verbesserung der herrschenden Verhältnisse. Dieser Wandel wird auch durch den Oberlehrer Karl Früholz verkörpert, einen der beiden Chronisten. Er engagierte sich als aktiver Kommunist im Ruiter Gemeinderat, trat aber 1931 – auch auf Druck der Schulbehörde – aus der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) aus und wurde schließlich zum Nationalsozialisten. Sein Gesinnungswechsel ist in der Orts-Chronik dokumentiert, in dieser schildert er die beginnende Nazizeit als durchaus positiv.

Das wird von Jochen Bender aber ins richtige Licht gerückt – unterfüttert durch vielfältige Quellen, derer er sich bei seinen Recherchen bedient hat. Denn allgemein sei die frühe Phase des Nationalsozialismus’ in der Ortsgeschichte „eher unterbelichtet“, weil die Protagonisten der damaligen Zeit später alle Ruit verließen. Außer in alten Gemeinderatsprotokollen hat Jochen Bender in Akten zu Vereinen und im Staatsarchiv recherchiert. Dort stieß er unter anderem auch Spruchkammerakten und auf Protokolle zu Entnazifizierungsverfahren.

„Täter und Opfer zugleich“

Letzterem sah sich beispielsweise auch der Lehrer und Chronist Karl Früholz ausgesetzt. Und zudem strebte er ein Wiedergutmachungsverfahren an, weil er als Kommunist zunächst unter den Nazis gelitten hatte. „Er war Täter und Opfer zugleich“, sagt Jochen Bender.

Die politischen Gegebenheiten schilderten Früholz und Schumacher eher subjektiv, sagt der Stadtarchivar. Aber sich berichteten in der Orts-Chronik auch über das Wetter, Unglücksfälle, große Ereignisse und Kleinigkeiten und über das Vereinsleben. Dazu gibt es keine anderen Quellen, erzählt Bender, denn Ruit hatte damals keine eigene Zeitung. Allein schon die in Sütterlinschrift verfasste Orts-Chronik zu „übersetzen“ sei eine Mammutaufgabe gewesen, sagt Jochen Bender. Und die „ausgeprägte Handschrift“ von Karl Schumacher habe es nicht einfacher gemacht. Doch die Arbeit hat sich gelohnt, gibt sie doch auf spannende Weise einen Einblick in das damalige Zeitfenster. Dass die „Orts-Chronik Ruit 1924 – 1934“ kurz vor Weihnachten erscheint, ist übrigens kein Zufall. So hätten nicht nur Ruiter „etwas Schönes, das sie verschenken können“, sagt Ostfilderns Erster Bürgermeister Rainer Lechner.