In der Nacht von Sonntag auf Montag werden in Los Angeles die Oscars verliehen. In diesem Jahr verspricht die Verleihung des wohl wichtigsten Filmpreises der Welt größte Spannung.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - An den Oscars kommt keiner vorbei. Sie schreiben zahllose Geschichten, die Awards der Academy of Motion Picture Arts and Sciences. Schöne Kleider, große Erwartungen, fiese Anspielungen, enttäuschte Hoffnungen, tränenreiche Dankesreden, dazu mal Ovationen im Stehen, mal nur karges Hüsteln – das sind jedes Jahr die Oscar-News. Ein Füllhorn.

 

Am kommenden frühen Sonntagabend Ortszeit werden im Dolby Theatre in Los Angeles zum 87. Mal die mutmaßlich Besten des Kinojahres 2014 ausgezeichnet, in 24 Kategorien, vom besten Dokumentar-Kurzfilm über das beste Make-Up bis hin zur besten Kamera, zur besten Regie und natürlich zur Krönung des US-Filmjahres überhaupt, dem – Summa summarum – „Best Motion Picture of the Year“.

Aber wie kommt es eigentlich zu diesem Hype? Was macht den Oscar interessanter als den César in Frankreich, den Goya in Spanien oder die Lola in Deutschland, vom alljährlichen Europäischen Filmpreis in seiner hoffnungslosen Lemurenhaftigkeit mal ganz zu schweigen?

Ein Geheimnis

1929 wurden die ersten Oscars vergeben. 1941 kam die Academy auf die Idee, die Spannung vor der Verleihung dadurch zu steigern, dass die Gewinner erst bei der Verleihung selbst aus einem kleinen Kreis vorab Nominierter bekannt gemacht werden. Ganz genau: die große Umschlagnummer – „And the Oscar goes to . . .“ Dieses Prinzip haben später zwar alle Césars und Lolas emsig übernommen. Interessanter wurden sie darum noch lange nicht.

Wirklich wundersam, dass bisher nicht einmal in 74 Jahren die Namen und Titel auf den Siegerkärtchen vorab bekannt wurden. Immerhin ist das Votum unter den knapp 6000 Mitgliedern der Academy bereits fünf Tage vor der Gala abgeschlossen, und die Experten der Wirtschaftsberater von Pricewaterhouse-Coopers werden sicher nicht erst am Sonntagnachmittag mit der Stimmauszählung beginnen. Doch bisher hat sich nie ein Informant zu petzen getraut. Bisher ist bei der Gala jede Miene, jede Spannungsfalte, jedes leicht zwanghafte Grinsen auf den eingeblendeten Gesichtern der Nominierten dank Unwissenheit über das gleich zu Hörende wirklich echt.

Und obwohl sich natürlich jeder Nominierte für den Fall der Fälle vorab seine Dankesworte zurechtgelegt hat – im Ernstfall fängt er dann doch zu stottern oder gar zu weinen an. Warum?

Das Prestige

Die kleine Oscar-Statue ist nur äußerlich vergoldet. Ihr Materialwert beträgt 300 Dollar. Sie darf nicht verkauft oder versteigert werden, dazu sind per Vertrag sogar die Erben des Oscar-Gewinners verpflichtet. Will jemand seinen Oscar unbedingt loswerden, kann er ihn für 1 Dollar der Akademie zurückgeben. Mit anderen Worten: eigentlich ist der Oscar Nippes.

Aber das stimmt natürlich nicht. Der Oscar ist tatsächlich Gold wert. Sein Prestige für die Filmschaffenden ist immens. Bereits die Nominierung in einer der 23 Oscar-Kategorien hebt den Marktwert der Künstler. Mit dem Zusatz „Oscar-Nominee“ wird auf Filmplakaten, in den Trailern und im Netz geworben. Ein Schauspieler, der den Oscar gewonnen hat, wird sich seine nächsten Rollen aussuchen können. Eine Schauspielerin, die in jungen Jahren einen Oscar errungen hat, kann sich deutlich bessere Chancen ausrechnen, auch jenseits von vierzig Jahren noch interessante Angebote zu bekommen.

Zu Recht kritisieren europäische, asiatische oder lateinamerikanische Regisseure, dass sie mit ihrer Filmkunst nur geringe Chancen haben, bei den Oscar-Nominierungen in Betracht zu kommen – höchstens in der eigens geschaffenen Kategorie „bester nicht-englischsprachiger Film“ oder ab und zu auch in den Hauptkategorien. Trotzdem war der wichtigste Preis für Volker Schlöndorffs „Blechtrommel“-Verfilmung 1980 der Oscar, so wie 2000 für Pedro Almodovar („Alles über meine Mutter“). Und als Hollywood 1999 Roberto Benigni für seine Geschichte „Das Leben ist schön“ auszeichnete, da tanzte der Italiener vor Freude quer über die Stuhllehnen zur Bühne.

An diesem Sonntag wird Wim Wenders aufgeregt sein. Er ist für den Dokumentarfilm-Oscar nominiert. Noch schlimmer: er gilt in dieser Kategorie sogar als Favorit.

Die Favoriten

Vor einer Oscar-Verleihung ist in unzähligen Medienberichten von diesem oder jenem, häufig sogar von „großen Oscar-Favoriten“ die Rede. Dabei ist bei der Oscar-Verleihung nur eines fast regelmäßig sicher: der Sturz der Favoriten.

Einen Favoritenstatus wollen viele Beobachter aus der Zahl der Nominierungen für einen Film herauslesen. Die Favoriten für den diesjährigen Oscar wären demnach mit je neun Nominierungen die beiden Komödien „Grand Hotel Budapest“ und „Birdman“. Doch es wäre nicht das erste Mal, dass alles anders kommt. Der herrlich skurril-überdrehte Film „American Hustle“ ging im vergangenen Jahr mit zehn Nominierungen in die Oscar-Nacht – und dann komplett leer aus. „True Grit“, der edel gemachte Western der Coen-Brüder 2011: zehn Nominierungen – kein Oscar, nichts.

Die fast vierstündige Oscar-Gala hat fast immer eine ganz eigensinnige Dramaturgie. Preis für Preis wird vergeben, die wirklich wichtigen natürlich zum Schluss. Filme, die bei den ersten, eher technischen Oscars noch triumphieren und schon als Sieger des Abends gelten, geraten in Stunde drei oder vier plötzlich ins Abseits. Und natürlich: gerade beim „besten Film“ hat die Mehrheit der Academy-Mitglieder schon grandios daneben gelangt. „L. A. Crash“ gewann 2006 den Hauptpreis. „Brokeback Mountain“ war der Academy zu schmuddelig. Oder 2013: „Argo“ statt „Inglorious Basterds“. Wer oder was war nochmal „Argo“? Eben. Selbst diese Du-fasst-es-nicht-Geschichte bekommt so keine Lola hin. Aber der Oscar. Auch das ist Qualität.

Die Geschichten

Der ganze aktuelle Oscar-Jahrgang, die ganze Nominiertenliste ist schon jetzt eine Geschichte für sich. Bei ihrer Vorauswahl hat die Academy das große Popcorn-Kino weitgehend missachtet. Die Hobbits im Auenland, die Suche nach fernen Welten im All, die blutspritzende Agentenjagd – sie wird in der Oscar-Gala nur sehr am Rande eine Rolle spielen.

Im Zentrum dagegen: Menschen, Geschichten, Gesichter aus großer, allergrößter Nähe. Das Leben eines schwerbehinderten Physikgenies: „Die Entdeckung der Unendlichkeit“, großes Drama. Ein englischer Außenseiter kämpft gegen den Weltkriegsfeind: „The Imitation Game“, zum Schluss eine Tragödie. Ein alternder Filmstar japst nach dem Theatererfolg, lässt aber tolpatschig in der Pause nach dem Duschen die Tür des Notausgangs zufallen, steht ausgesperrt unter freiem Himmel und muss splitternackt über den Broadway laufen: „Birdman“, ein herrlicher Spaß.

Und das sind nur drei Beispiele. Es scheint, als wolle Hollywood in einer Zeit, da gerade einem jungen Publikum die Fernsehserie immer wichtiger wird, beweisen, dass die wirklich großen Geschichten doch nur im Kino erzählt werden können. Und sei es, dass ein Film demonstrativ gar keine Geschichte erzählt, sondern einfach nur über zwölf Jahre einem Jungen beim Erwachsenwerden zuschaut und aufzeigt, wie im scheinbar Banalen des Alltags die wahre Dramatik zu finden ist: „Boyhood“ – Robert Linklater hat US-Filmkunstkino geschaffen, nicht mehr und nicht weniger.

Jedem dieser Werke gönnt man in der Nacht zum Montag den großen Oscarjubel – und noch anderen Filmen mehr. Aber ob es auch eintrifft, das zeigt erst die Gala.

Die Gala

Jedes Jahr hat die Oscar-Verleihung einen anderen Gastgeber, einen „Host“. Die erste Viertelstunde gehört ihm, seinen Witzen, Anspielungen, Zoten. Welcher Star, wenn über ihn gelästert wird, nicht mitlacht, der hat verloren. Der Gastgeber in diesem Jahr ist Neil Patrick Harris. In der auch in Deutschland erfolgreichen Serie„How I met your Mother“ spielt er den blonden Frauen-Flachleger Barney Stinson. Im realen Leben hat er in New York seinen langjährigen Partner geheiratet und mit ihm und einer Freundin als Leihmutter Zwillinge zur Welt gebracht.

Die Rechten in Amerika schäumen über diesen Host der Academy. Mitlachen müssen sie am Sonntag wohl oder übel. Noch so eine Geschichte, die nur der Oscar schreibt.