Für ihre Rolle als gekidnappte Mutter im Filmdrama „Room“ hat Brie Larson den Oscar als beste Hauptdarstellerin erhalten. Im StZ-Interview erzählt sie, wie sie sich in die Situation der Gequälten einfühlen lernte.

Stuttgart - Auf den ersten Blick wirkt es, als sei Brie Larson über Nacht zum Shooting Star geworden. Doch tatsächlich spielt die frisch gebackene Oscar-Gewinnerin das Hollywoodspiel schon ganz schön lange mit. Als Kind stand die heute 26-jährige für diverse Fernsehserien vor der Kamera, mit 16 Jahren nahm sie ein Album auf und erreichte mit der Single „She Said“ Platz 31 der US-Charts. Ihren Oscar als beste Hauptdarstellerin erhielt sie für ihre Rolle in dem Drama „Raum“. Larson spielt darin eine tapfere Frau, die seit sieben Jahren von einem Verbrecher festgehalten wird – zusammen mit ihrem fünfjährigen Sohn, Frucht der Vergewaltigung durch den Kidnapper. Der Film ist vom 17. März an im deutschen Kino zu sehen.
Miss Larson, die Geschichte von „Raum“ ist stark. Wie belastend war die Arbeit ?
Gar nicht belastend. Warum sollte sie? Ich hatte einen ganz wunderbaren Regisseur an meiner Seite und mit Jacob Tremblay den wunderbarsten Filmsohn, den man sich vorstellen kann.
Aber die Umstände, unter denen Ihre Figur diesen Jungen aufzieht, sind eigentlich unvorstellbar.
Natürlich, aber das ist ja gerade der Punkt. Es geht in dieser Geschichte darum, dass man auch ohne jegliche Annehmlichkeiten und unter den widrigsten Umständen einen Raum schaffen kann, in dem Platz ist für Liebe und Sicherheit. Das ist, finde ich, ein ziemlich beruhigendes und heilsames Motto nicht nur für unseren Film, sondern auch fürs Leben allgemein, oder nicht?
Da ist etwas dran. Aber ich muss trotzdem noch einmal fragen: Wie versetzt man sich als Schauspielerin in eine solche Lage?
Die Frage ist doch eher, ob man es überhaupt kann. Ich jedenfalls habe schnell erkannt, dass ich sicherlich nie zu hundert Prozent werde nachvollziehen können, wie es ist wenn man sieben Jahre gefangen gehalten wird. Was ja alleine schon schlimm genug wäre, aber sie wird auch sexuell missbraucht und bekommt ein Kind. Mir blieb nur die Möglichkeit, mir so viele Teile dieses großen Puzzles wie möglich anzueignen und der Sache so nahe wie möglich zu kommen. Das fing damit an, dass ich mir jeden Morgen am Set bewusst gemacht habe, dass ihre Handgelenke wehtun und ihre Zähne schmerzen. Mir hat es dabei sehr geholfen, dass ich als mit einem Trauma-Experten gesprochen habe, der mir erklärt hat, dass diese Frau in einer Art Überlebensmodus funktioniert und deswegen gar nicht die vollen Auswirkungen ihrer Situation wahrnimmt. Dieses automatische Ausblenden des Grauens hat mich fasziniert und sehr beim Verständnis der Figur geholfen. Das ganze Ausmaß, das echte Trauma, das setzt erst ein, als sie später wieder zuhause ist.
Dabei auch noch mit einem kleinen Kind vor der Kamera stehen – das war sicher doppelt schwierig?
Erstaunlicherweise gar nicht. Die Arbeit mit meinem Filmsohn Jacob Tremblay war alles andere als schwierig. Als ich die Rolle annahm, hatte ich mir nicht ausgemalt, dass mir da ein ebenbürtiger Partner gegenüber stehen würde. Doch genau das war der Fall. Ich habe nur gestaunt, wie ein Achtjähriger schon so viel Verständnis von der Schauspielerei haben kann. Das Improvisieren in den Proben war für ihn ein Kinderspiel. Selbst in unserer längsten Szene, die sicherlich 16 Drehbuchseiten hatte, hatte er jeden Satz drauf. Wir waren davon ausgegangen, dass wir mindestens drei Tage dafür brauchen würden, aber nach einem war alles im Kasten. Aber das wichtigste war: er hatte überhaupt keine Schwierigkeiten, zwischen sich und seiner Rolle zu unterscheiden. Das ist bei so jungen Kids und so emotional anspruchsvollen Geschichten keine Selbstverständlichkeit.
Ihre eigene Kindheit hat so rein gar nichts gemein mit dem Schicksal des kleinen Jack. Sie standen schon früh vor der Kamera. Gilt das Klischee des verwöhnten Kinderstars?
Oh nein. Ich war sieben Jahre alt, als meine Mutter mich und meine jüngere Schwester ins Auto packte und wir von einem Moment auf den nächsten unser altes Leben hinter uns ließen. Wir fuhren von Sacramento nach Los Angeles mit nichts mehr als dem, was ins Auto passte. Ein paar Klamotten, für jede von uns ein Spielzeug und – wie ich Jahre später erfuhr – ganzen 4000 Dollar in der Tasche. Wir kamen in einem kleinen Apartment unter, bestenfalls doppelt so groß wie der Raum in unserem Film. Aus materieller Sicht war diese Anfangszeit in LA unfassbar karg. Aber in meiner Erinnerung ist das die beste Zeit meiner Kindheit.
Tatsächlich?
Ja, lustigerweise ist mir erst Jahre später bewusst geworden, dass wir tatsächlich praktisch keine Spielsachen hatten. Doch wir hatten eben uns und unsere Fantasie. Meine Mutter hatte ein Händchen dafür, aus allem ein Spiel zu machen. Das war viel mehr wert als es eine Nintendo-Konsole hätte sein können. Dass es auch Momente gab, in denen ich davon aufwachte, dass meine Mutter nachts fürchterlich weinte, habe ich lange verdrängt. Was wiederum zeigt, welche Prioritäten das menschliche Unterbewusstsein setzt.
Welche Spuren haben diese Kindheitserfahrungen in Ihrem Leben hinterlassen?
Ich bin auch heute noch der festen Überzeugung, dass materieller Besitz einen nicht glücklicher macht. Ich bin seit damals ein sehr sparsamer und bescheidener Mensch und lege mehr Wert auf meine persönliche Entwicklung als auf die meines Kontos. Was auch ganz gut so war, denn meine Karriere verlief ja bislang eher langsam, mit vielen kleinen Rollen und Independent-Projekten. Dass ich auch mal ganz ordentlich bezahlt werde, ist ja eine eher neue Erfahrung für mich. Ich will nicht schönreden, dass es verdammt hart ist, von 800 Dollar zu leben oder beim Vorsprechen hundertmal abgelehnt zu werden. Ganz zu schweigen davon, als Kind die Scheidung der Eltern und damit den Verlust des Vaters zu verarbeiten. Aber ich habe eben früh gelernt, dass ich trotzdem glücklich sein und die großartigsten Erfahrungen machen kann.
Die kargen Zeiten sind nun überwunden.
Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Keine Frage, der Oscar ist die höchste Auszeichnung, die man in meinem Beruf bekommen kann. Aber was zählt, ist der Moment.