Zum 87. Mal haben die Mitglieder der amerikanischen Filmakademie ihre Auszeichnungen für die Besten des Jahres verteilt. Und eins wollen sie dabei ganz sicher nicht auf sich sitzen lassen: den Vorwurf, sie seien reaktionär und geschmacklos.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Ist der Oscar männlich, weiß und heterosexuell? Die schwarze amerikanische Regisseurin Ava DuVernay hat das jedenfalls kurz vor der Oscar-Verleihung anklagend behauptet und für künftige Nominierungsrunden Geschlechter- und Hautfarbenquoten gefordert. Es fiel leicht, diese Einlassung als nervige Rassen- und Genderdebatte abzuhaken, hinter der sich die Enttäuschung DuVernays verbarg, selbst mit ihrem Film „Selma“ nur zweimal nominiert zu sein – und einmal davon in der Nebenkategorie „bester Filmsong“.

 

Rückblickend betrachtet muss man Ava DuVernay allerdings durchaus Abbitte tun. Inzwischen ist „Selma“ auch in deutschen Kinos zu sehen und entpuppt sich als ganz vorzüglich komponiertes, dichtes, spannendes, tief bewegendes und noch dazu hochpolitisches Biopic über Martin Luther Kings Bürgerrechtskämpfe in der Provinz von Alabama. Ein Film von dieser Qualität hätte in vielen Oscar-Kategorien vertreten sein können, vor allem auch bei der Regie und beim Hauptdarsteller (sehr, sehr stark: David Oyelowo).

Hollywood kann sehr subversiv sein

Dass die Akademie „Selma“ fast ganz überging, dass andererseits der überaus konventionell gestrickte Kriegsheldenfilm „American Sniper“ von Clint Eastwood, und zwar auf den letzten Drücker, noch sechs Nominierungen ergatterte, das lässt sich in der Tat nicht mit filmischer Qualität, sondern polemisch zugespitzt nur so erklären: Ja, stimmt – Eastwood und sein Hauptdarsteller Bradley Cooper sind halt sehr männlich, sehr weiß und vermutlich auch sehr heterosexuell. Für „Selma“ hat es dann in der Oscar-Nacht auch nur für einen Award gereicht: für „Glory“, den Filmsong.

Wer nun aber glaubte, die Mitglieder der Academy und die Akteure der Oscar-Nacht würden die Schmach, vor Teilen der Welt womöglich als erzkonservative Dumpfbackenbude dazustehen, so einfach auf sich sitzen lassen, hatte die Rechnung natürlich ohne das Geheimrezept dieser alljährlichen Weltkultur-Großveranstaltung gemacht. Hollywood kann, wenn es so will, so subversiv sein. Dann ist es voller Scherz, Satire, Ironie und tieferer Bedeutung. Und so kämpfte am Sonntagabend im Dolby- Theater in Los Angeles an vorderster Front der Gastgeber, der Host: der Schauspieler, Comedian und Musicalstar Neil Patrick Harris. „Welcome to the Oscar-Show“, begrüßte er sein Milliardenpublikum. „Tonight Hollywood honours the best and whitest. Oh, sorry: brightest.“ Boing! „Hollywood ehrt heute die Besten und Weißesten. Oh, sorry: Strahlendsten.“ Dazu muss man wissen: Harris ist männlich und weiß, aber sehr klar nicht heterosexuell. So markiert man sein Terrain.

„Bleibt schräg, bleibt widerständig“

Und das war nur der Auftakt zu einer langen Reihe gesellschaftlicher Spitzen und politischer Statements, die sich wie ein roter Faden durch den fast vierstündigen Abend zog. Als Laura Poitras den Dokumentarfilm-Oscar bekam für „Citizenfour“, klagte sie nicht nur die Eingriffe der US-Geheimdienste in Demokratie und Privatsphäre an, sie pries auch Mut und Kraft Edward Snowdens – unter großem Beifall des Publikums. Nur zur Erinnerung: Snowden gilt offiziell in Amerika als gesuchter Schwerkrimineller! Worauf der Moderator Harris beim Überleiten zur nächsten Nummer betont trocken anmerkte: „Edward Snowden cannot be here for some treason“ – Edward Snowden kann wegen eines bestimmten Verrats nicht hier sein. Ein trockener kurzer Satz: bitterer Scherz, böse Satire, entlarvende Ironie, tiefschwarze Bedeutung.

Später ließ die großartige Patricia Arquette ihren Dank für den Nebendarsteller-Oscar münden in den Ausruf: „Lasst uns kämpfen für die Rechte der Frauen in den Vereinigten Staaten“ – und hat jemand schon mal zuvor Meryl Streep so jubelnd aufspringen sehen wie hier im Dolby Theatre von Los Angeles, gleich in der ersten Reihe? Eine Stunde später: „Der geniale Mathematiker Alan Turing wurde in seinem Leben nie so geehrt für sein Werk wie gerade ich“, sprach da der junge Drehbuchautor Graham Moore, der den Oscar für das „Imitation Game“, die große Turing-Story, gerade gewonnen hatte. „Denn Alan Turing war wegen seiner Homosexualität geächtet. Auch ich habe versucht, mir mit 16 Jahren das Leben zu nehmen, weil ich mich anders fühlte. Und nun stehe ich hier und kann nur alle, die anders fühlen, aufrufen: bleibt schräg, bleibt widerständig.“ Ovationen für Mister Moore.

Plädoyer für das Einwanderungsland USA

Der mexikanische Regisseur Alejandro González Iñárritu musste im Laufe des Abends gleich drei Dankesreden halten (bei den Oscars für Drehbuch, Regie und bester Film). Den politischen Höhepunkt brachte er erst ganz zum Schluss – als er anmerkte, bekanntlich ein Mexikaner zu sein, und die US-Regierung aufforderte, endlich großzügige Einbürgerungsregeln für die vielen seit langer Zeit illegal in Nordamerika lebenden Landsleute zu finden: „Denkt daran: dieses großartige Land war von Anfang an ein Einwanderer-Land, und ohne Einwanderer wäre es nie so großartig geworden.“ Nach diesen Worten blieb Neil Patrick Harris beim Ade nur noch ein Wunsch an das Publikum: „Buenas noches!“ Geht es besser?

Und selbst „Selma“ bekam ja noch einen versöhnlichen Auftritt. Nicht nur, dass der vorzügliche Filmsong „Glory“ der einzige der nominierten Titel war, der an diesem Abend komplett und mit großem Chor aufgeführt wurde – in ihrer Dankesrede konnten die frisch Prämierten dann auch noch mal richtig zulangen: „Dieser Film steht für einen neuen Geist, neuen Atem“, sagte der Sänger John Legend. „Es sind heute mehr Schwarze unter Kontrolle der Justiz als zu Zeiten der Sklaverei 1850. Leute, die zu unserem Lied marschieren, sollen wissen, wir sind bei euch. Marschiert weiter!“ Clint Eastwoods „American Sniper“ gewann schlussendlich übrigens auch nur einen Oscar – für den besten Tonschnitt.

Und wo blieb die große Versöhnungsgeste? Der in Amerika doch auch immer so wichtige Schulterschluss? Nun, die Oscar-Gala erinnerte an den Musicalfilm „Sounds of Music“, der 1965, vor fünfzig Jahren, Premiere feierte – bei uns als (Kitsch-)Geschichte der österreichischen Gesangsfamilie Trapp abgehakt, in Amerika aber vor allem dank der wunderbaren Musik von Richard Rogers und der Hauptdarstellerin Julie Andrews fester Teil des konservativen Kultkanons. Und wer war es, die am Sonntagabend im Dolby-Theater „Edelweiß“ zum Besten gab? Niemand anderes als Lady Gaga! Nicht männlich, dezidiert bunt und post-heterosexuell. Die ebenfalls anwesende Julie Andrews war zu Tränen gerührt: „Thank you for the tribute“, lag sie Gaga in den Armen. Das ist Oscar. Wir lieben es.