Im Internet tobt der Teufel, auch in den USA. Statt um den VfB-Torhüter Sven Ulreich geht es um das Gelbe vom Football-Ei.

Miami - Wir bereisen zur sportlichen Fortbildung zurzeit Amerika, und der Anfang war böse. Jovan Belcher, ein Verteidiger des Footballclubs Kansas City Chiefs, hat am vergangenen Samstag seine Freundin erschossen, ist auf den Parkplatz des Arrowhead-Stadions gefahren und hat vor den Augen des Trainers und des Managers auch sich selbst umgebracht. Tags darauf nutzte der bekannte NBC-Moderator Bob Costas die Halbzeitpause in „Sunday Night Football“ zu einem flammenden Appell für mehr Waffenkontrolle. Danach war der Teufel los.

 

Keine ruhige Minute hat der Friedfertige mehr. Ein Sturm der Entrüstung tobt durchs Internet, sein Kopf wird gefordert, die Waffenverliebten würden ihn am liebsten an die Wand stellen und das Feuer eröffnen, sie glühen vor Wut: Was fällt dem Kerl ein, wie kommt er dazu, das Mikrofon für seine persönliche Meinung zu missbrauchen?

Es gilt die alte Philosophie von Otto Rehhagel

Ungefähr genauso behämmert wäre es, einem Theaterkritiker die Kritik zu verbieten. Doch in den militanter orientierten Meinungsforen des Internets werden die Dinge rustikaler gesehen, es gilt die alte Philosophie von Otto Rehhagel: „Bei mir“, sagte er früher als demokratischer Diktator, „darf jeder meine Meinung sagen.“

Otto hat damals darüber gelacht, aber die Meinungsottos von heute meinen es ernst, sie hämmern der Welt ein, wo es langgeht. Sie hocken mit ihrem Herrschaftswissen vor ihrem Laptop, hacken ihre Sicht der Dinge hinein, und wer sie nicht teilt, wird verbal und gerne auch vulgär füsiliert wie Costas. Motto: „Rausschmeißen!“

Massen von Mitteilungsbedürftigen haben im Internet eine Schleuse gefunden, um sich den Kopf über den Kropf zu entleeren – mit einer Zunge, die häufig schärfer ist als der Verstand, geigen sie anderen die Meinung und lassen ihrer eigenen freien Lauf. Das geht dann oft aus wie neu-lich, als ein sogenannter Fußballfan mit Sven Ulreich nicht mehr so recht zufrieden war und im Schutz eines Decknamens den Stuttgarter Torwart anflehte: „Ulreich, tue Dir und uns einen Gefallen und mache es wie Enke.“

Wenn Armleuchter sich für Kronleuchter halten

Nicht zum ersten Mal muss da der ehemalige Nationaltorwart Robert Enke, der sich als verzweifelter Mensch vor den Zug gelegt hat, posthum für ein dummes Geschwätz herhalten – als Kevin-Prince Boateng vor zwei Jahren Michael Ballack verletzte, fragte schon ein anderer: „Hat Boateng eigentlich ein Alibi für die Nacht, in der Enke starb?“

Aber es ist vertane Zeit, so einem schlecht Durchbluteten den Puls zu fühlen. „Meinungsfreiheit“, sagt der dann, bläst die Backen auf – und hält jeden für gaga, der ihm weismachen will, dass das Internet weder ein rechtsfreier Raum noch eine geschlossene Abteilung ist, in der sich jeder Armleuchter für einen Kronleuchter halten und auf Kosten anderer ungestraft austoben darf. Dieses neue Sittenverständnis ist übrigens dem in öffentlichen Bedürfnisanstalten ganz ähnlich – man staunt oft, wie viele sich nach dem Pinkeln das Händewaschen ersparen, und wenn man sie schräg anschaut, halten sie einen für einen verklemmten elitären Pinkel mit krankhaftem Hygienewahn.

Die Wasserlasser gehen mit ihrer Meinung Gassi

So mancher Wasserlasser im Internet pinkelt der Umwelt aber zusätzlich auch noch seine Meinung ans Bein, er geht Gassi mit ihr. Was lässt diese Sportskameraden gefühlsmäßig so verrohen, bis zur blinden Verachtung der Würde anderer? Man wird es nicht erfahren, diese rätsel-hafte unterirdische Meinungswelt ist zu überzeugt, dass die Eiseskälte ihrer Gefühle der Gipfel der Coolness ist. Wie schrieb neulich einer über den nach seinem Autounfall im Koma liegenden Bundesligastürmer Boris Vukcevic mit dem widerwärtigen Spott der Erbarmungslosigkeit: „Eigentlich sollte man sich nicht mit Lkws anlegen.“

Wobei ein Lastwagen immer noch menschlicher denkt als diese Gefühlstoten, die im weltweiten Netz jedem an den Kragen gehen, der ihnen auf die Nerven geht oder anderer Meinung ist. Bob Costas hat die giftigen Fragen links und rechts um die Ohren gekriegt. Waffenkontrolle? Wofür das denn? Was kann denn die Pistole dafür, dass dieser durchgeknallte Footballer abgedrückt hat? Durchgedreht hat nicht die Knarre, sondern der Kerl am Abzug. Der Rockmusiker Ted Nugent schoss auf Twitter mit schier unwiderlegbarer Logik vollends das tollkühne Argument aus der Hüfte: „Nicht die Waffe war schuld – sonst wäre im Football bei jedem Kopfstoß der Helm schuld.“

Norman Mailer hat es schon immer gewusst

Hat der taffe Ted einen Kopfstoß zu viel? Nein, er will nur, dass dieser Fernsehfuzzy gefälligst seiner Meinung ist – denn die ist das Gelbe vom Football-Ei, wenn nicht gar der Doppeldotter.

Norman Mailer hat seinerzeit schon gewusst, warum er nicht nur „Die Nackten und die Toten“ schrieb, sondern auch über die Leisen nachdachte. Er kam dabei zu dem Schluss: „Die Stillen kommen heutzutage nur noch auf dem Friedhof zur Geltung.“ Sie haben sich vor dem Meinungsterror noch rechtzeitig aus dem Staub gemacht.