Am Mittwoch feiert Boris Becker runden Geburtstag. Doch ist er für viele Deutsche nicht mehr der 17-jährige Leimener – sondern irgendein 50-jähriger Londoner.

Stuttgart - Boris Becker wird am Mittwoch fünfzig, aber das Mitfeiern ist auch den letzten seiner ehemaligen Bewunderern vermutlich vergangen, als er vor ein paar Tagen einen Blick in die Zukunft warf und sagte: „Ich möchte in Wimbledon auf dem Friedhof begraben werden. Nicht in Deutschland.“

 

Offenbar hält er uns Deutsche für seine Sargnägel. Die Verwirrung ist groß, denn noch Mitte des Jahres, als er zum Chef im deutschen Herrentennis befördert wurde, hatte er glaubhaft versichert: „Ich liebe diesen Sport, und ich liebe dieses Land.“ Neuerdings aber wohl weniger, jedenfalls hat ihn die Zeitschrift „Gala“ mit dem herzlosen Geständnis zitiert: „Ich habe einen deutschen Pass, aber ich fühle mich nicht als Deutscher. Mein Zuhause ist London.“ Er werde, fügte Becker hinzu, wohl nicht mehr zurückkommen, „aber ich trage Deutschland in mir.“ In Form des Reisepasses, auf Höhe des Herzens, in der Brusttasche, spotten seither die Lästergoschen.

Plötzlich ballen die Kritiker zornig die Becker-Faust

Verletzte Gefühle äußern sich heutzutage blitzschnell in Form eines sogenannten Shitstorms im viel zitierten Netz, und zwischen vielen Deutschen und ihrem ehemaligen Wunderknaben zeichnet sich ein Zerwürfnis schwereren Ausmaßes ab. Die Jüngeren konnten aufgrund ihrer späten Geburt schon bisher nicht viel mit der alten Tennislegende anfangen – aber selbst viele Ältere, die ihn als 17-jährigen Leimener noch persönlich spielen und siegen sahen, beziehen ihn plötzlich nicht mehr ein in ihr Abendgebet, sondern ballen zornig die Becker-Faust.

„Ich war früher sein größter Fan“, liest man seit Tagen so oder ähnlich in vielen Internetforen, „aber das hat sich jetzt erledigt.“

„Das war Rufmord, das war versuchter Totschlag“

Noch zu den vornehmsten Beleidigungen gehört die, dass die etwa 50 Millionen Euro Schulden, die Becker gelegentlich unterstellt werden, zahlenmäßig gut zu seinem 50. Geburtstag passen. Andere Kommentare sind weniger jugendfrei, und vor allem wird darin oft und gerne gefragt, warum er immer noch für den Deutschen Tennis-Bund arbeitet und Spesen abrechnet, obwohl es doch wir Deutschen sind, die ihn offenbar bis aufs Blut reizen. Wie sagte Becker unlängst über die Insolvenz-Verdächtigungen und die Berichterstattung über seine Finanzlage: „Das war Rufmord, das war versuchter Totschlag. Es geht darum, einen Mann und sein Lebenswerk kaputt zu machen.“

Ist das so? Kommen wir Deutschen mit unseren Helden nicht klar? Machen wir sie gerne einen Kopf kürzer?

Auch Hildegard Knef spürte die Häme ihrer Landsleute

Hildegard Knef hat das früher auch behauptet. Als Jungreporter durfte ich die Diva in der späten Blüte ihres Wirkens einmal interviewen, und sie sagte: „Wenn’s um mich ging, war in Deutschland immer Häme dabei.“ Vor allem, nachdem sie sich in „Die Sünderin“ (1951) nackt auszog und eine Hure spielte. Der Film wurde in vielen Städten verboten, Geistliche verdammten sie von der Kanzel herab als Luder, „und wenn ich in ein Restaurant kam, konnte ich Gift darauf nehmen, dass es vom Nebentisch zischte: ‚Fritz, wir gehen!’“ Ins Exil nach Hollywood ist sie geflüchtet, und dick stand dann irgendwann in der Zeitung: „Knef: Ich hasse alle Deutschen.“

Aber das war kurz nach dem Krieg Heute muss keine Diva mehr vor uns flüchten, auch nicht Boris Becker.

Wir Deutschen vernichten unsere Helden nicht, wir hegen und pflegen sie, man denke nur an die Max-Schmeling-Halle oder das Fritz-Walter-Stadion, und in Hamburg grüßt das Uwe-Seeler-Schussbein als Bronzestatue. Für Steffi Graf legen wir regelmäßig den roten Teppich aus, wann immer sie heimkommt, und eisern halten wir auch zu Franz Beckenbauer, egal, was in Sachen „Sommermärchen“ noch alles herauskommt – vielleicht hat er Fehler gemacht, aber einen nie: Zu sagen, dass er sich nicht mehr als Deutscher fühlt.

Becker ist nicht mehr der 17-jährige Leimener, sondern irgendein 50-jähriger Londoner

Boris Becker bricht vielen das Herz. Und wenn wahr ist, was man liest und hört, hat er sich jetzt auch noch zu der gnadenlosen Bekanntmachung hinreißen lassen: „Mein Name ist Herr Becker und wer mich gut und ganz lange kennt, dem erlaube ich, mich Boris zu nennen und nicht umgekehrt. Ich bin nicht euer Boris, ich bin erwachsen.“ Er ist kurz gesagt nicht mehr unser 17-jährige Leimener, sondern irgendein 50-jähriger Londoner.

„Mister Baker“, lästert das Netz.

So kann alte Liebe rosten. Scharenweise fühlen sich die Empfindsamen unter uns Deutschen gekränkt. Jahrelang haben wir wegen Becker in Schlafsäcken und mit heißem Tee in den Thermosflaschen vor den Kassenhäuschen übernachtet, um ihm anderntags den Rücken zu stärken, wir sind mit ihm furios ans Netz gestürmt und haben vor Verzweiflung mit ihm in den Schläger gebissen, und einmal, als er als angehender Vater unkonzentriert verlor, fragte „Bild“ besorgt für uns alle: „Spürt er sein Kind?“ Er und wir waren eins, vor lauter Liebe haben wir Tennisbälle über unsere Anhängerkupplungen gestülpt.

Und das ist nun der Dank: Boris Becker fühlt sich nicht mehr als Deutscher. Als er Wimbledon zu seinem Wohnzimmer erklärt hat, haben wir ihm das mit der Faust im Sack noch ungestraft durchgehen lassen – aber dass ihm Deutschland jetzt nicht einmal als Friedhof noch gut genug ist, geht zu weit.