Früher waren die Flitzer Kleinkünstler. Inzwischen sind sie das Eintrittsgeld allerdings nicht mehr wert - und werden immer öfter verdroschen. Ein Abgesang des StZ-Kolumnisten Oskar Beck auf ein Phänomen im Sport.

Stuttgart - Entsetzt haben sich die Friedfertigen unter uns Schreckhaften vergangenen Herbst die Hände vors Gesicht geschlagen, so teuflisch war die Brisanz des Augenblicks: Beim Pokalspiel des HSV gegen den FC Bayern stürmte ein Flitzer frontal auf Franck Ribéry zu, beleidigte ihn mit dem doppelten Mittelfinger und schlug ihm seinen HSV-Schal um die Ohren. Der Franzose kochte. Er verzerrte sein vernarbtes Gesicht zu einer Fratze, die wie eine Morddrohung aussah. Der Bayern-Star dachte sichtlich über eine spontane Repressalie nach, und weil er seine frühen Jahre in Stadtvierteln verbracht hatte, in denen die Ehre des Mannes noch etwas zählt, stand die Unversehrtheit des Flitzers für einen Moment auf des Messers Schneide. Der HSV-Spielmacher Lewis Holtby verriet später als Augenzeuge: „Ich hatte Angst, dass Franck ihm eine mitgibt.“ Doch aus unerfindlichen Gründen und dank einer schier unmenschlichen Selbstüberwindung hat sich Ribéry zusammengerissen – und sein Peiniger geht deshalb in die Geschichte ein als der womöglich letzte Flitzer, der ohne dicke Beule und blutgetränktes Auge den Sportplatz seines Auftritts verlassen hat.

 

Denn neuerdings kracht es.

Wo der Pazifist Ribéry noch beide Augen zugedrückt hat, heißt es jetzt andernorts: Zahn um Zahn. Ob (und falls ja welche) Vorder- und Backenzähne vor ein paar Tagen beim Europaligaspiel im Basketball zwischen Buducnost Podgorica (Montenegro) und Banvit Bandirma (Türkei) durch die Halle geflogen sind, wollen wir hier gar nicht wissen. Jedenfalls war der Versuch eines Flitzers, sich nach seinem gewalttätigen Angriff auf einen Spieler der Türken aus dem Staub zu machen, von einem Höchstmaß an Misserfolg gekrönt – denn auf der Flucht wurde er kurz hinter dem Korb hinterrücks erwischt von einer schweren rechten Geraden des US-Türkenstars Earl Rowlands und legte sich nach einem Kurzflug über drei bis vier Meter hin wie ein entwurzelter Baum. Im von der Polizei dominierten viertelstündigen Tumult danach ließ sich nicht mehr feststellen, ob der Flitzer ins Gewahrsam einer Zelle verfrachtet wurde oder zur Wiederbelebung ins Erste-Hilfe-Zelt des montenegrischen Roten Kreuzes.

Das Minutenglück der flinken Sportsfreunde

Der Vorfall wirft ein bezeichnendes Licht auf die Lage der Flitzer – also jener flinken Sportsfreunde, deren Minutenglück es jahrzehntelang war, den Ronaldos oder Scharapowas die Show zu stehlen, indem sie wie aus dem Nichts geschwind aufs Spielfeld rannten und im Zickzack den vierfachen Rittberger sprangen, und das meistens halb nackt, mit heruntergelassenen Hosen. Die Zuschauer haben oft begeistert gejohlt – oder zumindest mitleidig gelächelt, wenn beispielsweise das Gemächt, das sie zu sehen bekamen, etwas mickrig ausgeprägt war.

Heute? Tote Hose. Wenn Flitzer Glück haben, werden sie auf der Flucht nicht verdroschen – und die, die davonkommen, können ihr Beinkleid auch gleich wieder hochziehen. Es juckt keinen mehr. Man registriert diese Selbstentblößer gar nicht mehr. Als Fußnote völlig unter ging auch jener Türke, der sich beim Champions-League-Spiel von Galatasaray in Dortmund auf den Rasen mogelte. Nach einem netten Smalltalk mit dem BVB-Nationalspieler Ilkay Gündogan ließ er sich friedlich abführen – ein anspruchsvoller Flitzer von früher hätte sich von den Ordnungskräften vorher wenigstens noch umzingeln und im Rahmen der Menschenjagd schräg über den Platz jagen lassen, um zu zeigen, dass er zwei Backen in der Hose hat.

Die Flitzer pfeifen auf dem letzten Loch, sie sind das Eintrittsgeld nicht mehr wert. Es gibt mittlerweile zu viele. Kreativ ist kaum noch einer, in der Regel laufen die Nummern so trostlos ab wie bei diesem Hamburger Spinner, der sein Dasein als Gelegenheitsmodel und Discjockey auf Kosten von Ribéry aufwerten wollte. Die billige Nummer wird ihn teuer zu stehen kommen. In Rostock wurden drei Flitzer zu 20 000 Euro Schadenersatz verdonnert, und bezüglich der Strafanzeige gegen den Ribéry-Angreifer tippten Pessimisten sogleich auf höhere Ziffern – jedenfalls muss er dafür als Discjockey künftig viele Platten auflegen.

Geschäftstüchtige Wichtigtuer

Die Rechnung der Flitzer geht nicht mehr auf. Ein Flop war schon der Auftritt jenes selbst ernannten Komödianten Vitaly, der im WM-Finale in Rio auf den Rasen des Maracanas stürmte und den Schalker Höwedes küssen wollte. Aber kaum jemand bekam es mit, denn Ordner deckten den Russen vor den Augen der Kameras zu. Dabei hatte der geschäftstüchtige Wichtigtuer tags zuvor auf Youtube großspurig angekündigt: „Leute, ich sehe euch im TV, bei Deutschland vs. Argentinien.“ Als Löwe gesprungen, als Bettvorleger gelandet. Der Flitzer von heute ist oft nur noch ein gierig kalkulierender Geschäftsmann und knallharter Profi, er wird nicht mehr getrieben von der Herzenslust, sondern macht Reklame für sich oder Sponsoren, die ihn für seinen Auftritt bezahlen. Dieser neue Trend begann, als es vor Jahren eine als Dalmatiner verkleidete Frau bis zu Oliver Kahn ins Bayern-Tor schaffte und dort auf ihrem weißen Fell für Hundepudding warb.

Flitzen war einmal witzig – aber inzwischen gibt es klügere Schnapsideen, als über den Stadionzaun zu klettern, Haken schlagend kreuz und quer über den Rasen zu rennen, die jähe Unterbrechung eines Spiels herbeizuführen und am Ende wie ein Tagdieb abgeführt zu werden. Jaume Marquet Cot personifiziert das Elend der Entwicklung. Alle Welt kannte den Spanier als Jimmy Jump, er war der berühmteste Flitzer, mit einem Hechtsprung mussten ihn Ordner beim WM-Finale 2010 in Johannesburg sogar daran hindern, dem auf einem Sockel am Spielfeldrand thronenden Fifa-Pokal eine Baskenmütze aufzusetzen. „Ein Sprint über das Feld ist eine Adrenalinexplosion“, jubelte Jimmy, aber mit der Leidenschaft ist es jetzt vorbei. 2014 wurde er gefragt: „Warum warst du nicht beim WM-Finale in Rio?“ Er antwortete: „Ich konnte den Flug nicht bezahlen.“ Auch ein Spendenappell auf Facebook schlug fehl, Jump springt nicht mehr, zu viele Bußgelder. Allerhand Dinge muss er tun, um den Kopf über Wasser zu halten, oder besser über Spülwasser, denn angeblich jobbt er gelegentlich als Küchenhilfe. Das könnte der Ausweg der klugen Flitzer sein: Als Tellerwäscher wird man schneller Millionär – und läuft nicht Gefahr, dass einen auf der Flucht ein Basketball- und Sportstar mit gestrecktem Bein dort erwischt, wo es uns Männern richtig wehtut.