Bei der Fußball-WM 1982, 1986 und 2014 war für Frankreich stets gegen Deutschland Schluss. Daher hat also nicht nur Hans-Peter Briegel, die legendäre „Walz aus der Pfalz“, mit K.o.-Spielen gegen die Équipe tricolore gute Erfahrungen gemacht.

Stuttgart - Das EM-Halbfinale zwischen Frankreich und Deutschland bewegt bis ans andere Ende der Welt die Gefühle – dieser Tage kam es am Expertentisch des US-Fernsehsenders ESPN zu einem hübschen Dialog. „Freunde“, sagte der Moderator zu seinen zwei Sachverständigen, „wisst Ihr eigentlich, wann die Deutschen ihr letztes Turnierspiel gegen eine Gastgebernation verloren haben?“ „Sag es uns“, bedrängten sie ihn. Darauf der Moderator: „Es war 1966! Das WM-Finale 1966 in Wembley gegen England.“

 

„Wow!“ und „Oh my god!“ stöhnten die zwei anderen fassungslos, und am liebsten hätte ich ihnen durch den Bildschirm hindurch zugerufen: Und das eine, liebe Leute, haben wir auch nur verloren, weil diese blinde Schweizer Pfeife auf diesen sowjetischen Fahnenschwenker an der Seitenlinie hereinfiel.

Also, wir hätten auch da gewonnen, und am Donnerstag in Marseille müsste auch wieder ein Schuss an die deutsche Latte von irgendeinem Schurken zum Tor erklärt werden, andernfalls spricht nichts für Frankreich.

Ein Tiefschlag für den Fußballgott der Franzosen

Fragen Sie Michel Platini. Fälschlicherweise glauben ja viele, dass die Entmachtung als Uefa-Präsident der größte Tiefschlag für den einstigen Fußballgott der Franzosen war, aber er hat Schlimmeres durchstehen müssen - denn zweimal ereilte ihn auf dem Höhepunkt seiner Karriere das fragwürdige Gefühl, nach dem Schlusspfiff den Deutschen gratulieren zu müssen. Passiert ist es ihm in zwei historisch wertvollen WM-Halbfinals, von denen ein normal gebauter Mensch nicht einmal eines ohne Spätfolgen verkraftet – und trefflich beschrieben hat Platini dieses Gefühl vor allem nach dem „Drama von Sevilla“ anno 1982, als die Franzosen mit dem mutmaßlich besten Team ihrer Fußballgeschichte ein unfassbares Spiel, das sie schon gewonnen hatten, doch noch verloren.

„Es war das größte Spiel meiner Karriere, weil es das intensivste war“, sagt Platini. „In zwei Stunden habe ich alles durchlebt, was es an Gefühlen gibt. Zufriedenheit, Traurigkeit, Freude, Wut, Hass – das kann einem in dieser Intensität kein Film und kein Theaterstück geben.“ Vier Jahre später (wir kommen darauf zurück) hat sich die Geschichte dann im mexikanischen Guadalajara so gut wie wiederholt - jedenfalls scheuen wir Deutschen seither kein Duell mit den Franzosen.

Vor zwei Jahren in Rio zum Beispiel, vor dem 1:0-Sieg in Maracana-Stadion im WM-Viertelfinale, hat man Bundestrainer Joachim Löw über seinen Kollegen vis-à-vis gut gelaunt sagen hören: „Unter Didier Deschamps ist bei den Franzosen eine tolle Entwicklung zu sehen.“ So ähnlich hatten schon 1982 Jupp Derwall und 1986 Franz Beckenbauer geschwärmt. Auch jetzt, beim 5:2 gegen Island, waren die Franzosen wieder beeindruckend gut. Vor allem Antoine Griezmann. Es ist also alles wie früher – er ist so gefürchtet wie damals Platini.

Platini war einer der Weltstars der 80er. Er war die Nummer 10 alter Prägung, Stratege und Torschütze, wie Diego Maradona. Er war der Star von Juventus, Europacupsieger der Landesmeister, Weltcupsieger und mehrfach Europas Fußballer des Jahres, und im französischen Mittelfeld vereinigte er sich mit Alain Giresse und Jean Tigana zu einem traumhaften Trio. Sie lachten wie die Drei von der Tankstelle und spielten die Gegner schwindlig – solange es nicht die Deutschen waren.

Wir hatten, sagen wir es offen, bei der WM 1982 nicht den Hauch einer Chance. Die deutsche Mannschaft spielte bis zu jenem Halbfinale eigentlich nur mit, um die Welt zu ärgern und sich zu blamieren. Dem 1:2 gegen Algerien folgte, um die Nordafrikaner in der Vorrunde zu eliminieren, der schändliche Nichtangriffspakt von Gijon gegen die Österreicher, „El Anschluss“ titelte eine spanische Zeitung, ließ aber wenigstens den Untertitel mit den großdeutschen Ganoven weg.

Die Nacht von Sevilla – ein episches Fußballdrama

Doch dann kam die Nacht von Sevilla. Alles sprach für Les Bleus und ihren „Monsieur Genial“, den Picasso Platini. Es war brütend heiß, fast 40 Grad wurden gemessen, und es ging Schlag auf Schlag bei dieser Kollision zwischen Kunst und Kreativität auf der einen und Kraft und Kampf auf der anderen Seite. In der Verlängerung führen die Franzosen uneinholbar 3:1, die Messe war gelesen, das Amen gesungen, aber die Kirche irgendwie doch nicht aus: Rummenigge 2:3, Fischer 3:3, Elfmeterschießen. Toni Schumacher packte im Tor zweimal zu, und kurz vor Mitternacht traf Hrubesch. 8:7.

In Mexiko, vier Jahre danach, dasselbe Spiel. Vor jenem WM-Halbfinale saß ich in einem Café am Jalisco-Stadion in Guadalajara neben einem todtraurigen brasilianischen Kollegen. Socrates, Falcao und Zico waren gerade ausgeschieden – nach einem atemberaubenden Duell gegen die mitreißenden Franzosen, im finalen Thrill des Elfmeterschießens. 4:5. „Ihr seid trotzdem die Besten“, versuchte ich ihn zu trösten.

„Nein, Ihr seid es“, widersprach er, „alle Brasilianer bewundern die Deutschen, denn Ihr gewinnt, auch wenn Ihr nicht gut spielt.” Ich dachte: Fußball ist verrückt, wir Deutschen verzweifeln an unseren Rumpelkickern, und der hier möchte mit uns tauschen. „Ihr gewinnt gegen Frankreich”, sagte der Brasilianer.

Aber das war ausgeschlossen, absurd, abwegig. Beckenbauers Truppe war durch die WM gestolpert, „Gurkentruppe“, fluchte der Ersatztorwart Uli Stein sogar und erntete dafür die Zwangseinweisung ins nächste Flugzeug nach Hause. Die Gurkentruppe murkste sich über Uruguay (1:1), Schottland (2:1), Dänemark (0:2), Marokko (1:0) und mittels Elfmeterschießen gegen Mexiko ins Halbfinale – und die Franzosen, die alle paar Tage die Welt verzauberten, waren klarer Favorit.

Nach dem Sieg klimperte Egidius Braun auf dem Klavier

Doch einer lächelte nur: Hans-Peter Briegel, die „Walz aus der Pfalz“. Die knorrige Kante aus Kaiserslautern dachte an Sevilla und sagte mit seinem weltweit gefürchteten Grinsen im Mundwinkel: „Glaubt mir – die zittern.“ Der Rest ist rasch erzählt. 1:0 Brehme. 2:0 Völler. DFB-Präsident Egidius Braun klimperte bei der nächtlichen Siegesfeier virtuos auf dem Klavier.

Jetzt also wieder. EM-Halbfinale 2016, Frankreich gegen Deutschland, zum Vierten. Das heißt, nein, zum Fünften. Denn da war noch was, und es gibt den Franzosen vermutlich diesen erstaunlichen Mut, es doch immer wieder zu versuchen – denn einmal haben sie bei einem großen Turnier gewonnen.

Der 28. Juni 1958 war ein furchtbarer Tag. Viermal traf für die Franzosen der große Just Fontaine. Der Endstand: 3:6. Es war das WM-Spiel um Platz drei, und der Bundestrainer Sepp Herberger ließ die B-Elf ran. Seinen Stars hatte er an diesem Nachmittag frei gegeben, und vermutlich löffelte Uwe Seeler während des Schützenfests gerade in einem Göteborger Straßencafé eine Eisbombe „Cassata“ – und ahnt deshalb bis heute nicht, dass es gegen die Franzosen bei einem großen Turnier auch einmal ein Spiel gab, das wir verloren haben.