1979 schrieb eine Illustrierte: „Das schreckliche Sterben des Jo Deckarm“. Der beste Handballer der Welt wollte leben. Morgen wird er 60 – und bangt angesichts des Unfalls von Michael Schumacher auch um den ehemaligen Formel-1-Piloten.

Stuttgart - Das kurze Gedicht handelt vom eisernen Willen, von der inneren Kraft und der Überwindung. Das Gedicht ist holprig, aber es reimt sich, und es geht so:

 

„Sollte Dir mal was nicht gelingen, zeige keinen Verdruss, handle stets nach dem Grundsatz: Ich kann! Ich will! Ich muss!“ Der Mann, der den kleinen Vers zu Papier gebracht hat, ist tot. 1995 ist Werner Hürter gestorben, aber sein Gedicht lebt. Es lebt fort in Jo Deckarm, dessen Jugendtrainer, Lehrer, väterlicher Freund und Beschützer er war und für den er es verfasst hat – damals, in der Aussichtslosigkeit nach der Tragödie. Das Gedicht ist ein Appell: Bestimme selbst deinen Lebenslauf! Gib dich auch an schlimmen Tagen nicht auf! Finde dich nicht ab mit dem Schicksal! Jo kann. Jo will. Jo muss. Jo kämpft.

Saarbrücken, Hermann-Neuberger-Sportschule, irgendwann vor ein paar Jahren. Auf unsicheren Beinen und mit kleinen, behutsamen Schritten nähert sich ein behinderter Schwimmer dem Startblock zu Bahn 1. Er gibt sich Mühe, das Gleichgewicht zu halten und nicht zu stolpern. Dann steigt er langsam hoch, bringt sorgfältig die Füße in Stellung, geht sachte in die Knie und wartet auf das Kommando des Betreuers. „3-2-1 – Sprung!“

Der Behinderte streckt die Arme aus, stößt sich ab und hechtet ins Wasser. Als er wieder auftaucht, sagen wir ihm, wie wir ihn bewundern für das grandiose Beispiel, das er vielen Menschen gibt, die in ihrer Hoffnungslosigkeit kurz davor sind zu kapitulieren – und dass das überhaupt ein ganz großartiger Kopfsprung war. „Üben, üben, üben“, sagt Jo Deckarm lachend.

„Früher wollte ich Weltmeister werden – heute gesund“

Ist das, fragen wir ihn, der ungebrochene Ehrgeiz des alten Wettkämpfers, der Sie da immer noch antreibt? Der Behinderte nickt. Er sucht nach den richtigen Worten und antwortet mit seiner tiefen Stimme: „Ja. Nur das Ziel ist jetzt anders. Früher wollte ich Weltmeister werden. Heute will ich gesund werden.“

Ganz ähnlich wie an jenem Tag vor ein paar Jahren, als wir ihm bei seinem Reha-Training zuschauen durften, hat es Jo Deckarm nun neulich wieder gesagt. Nur ist es diesmal nicht um ihn gegangen, sondern um Michael Schumacher. Als Deckarm mitbekam, dass der Rennfahrer nach seinem Skiunfall im Koma liegt, sagte er zu Freunden spontan: „Früher hat er um Punkte gekämpft. Jetzt muss er um sein Leben kämpfen. Aber der schafft das!“

Joachim („Jo“) Deckarm ist da Experte. Wer, wenn nicht er. Er weiß, wovon er redet, und es sind immer zwei Anlässe, an denen er gefragt wird zum Behauptungswillen und Kampfesmut des Spitzensportlers: Entweder ist wieder etwas Furchtbares passiert – oder er hat einen runden Geburtstag. So wie morgen.

60 wird er, und in seiner Heimatstadt Saarbrücken wird gefeiert. Die „Hall of Fame“, die Heldenhalle des deutschen Sports, widmet ihrem prominenten Mitglied eine Ausstellung, und viele werden kommen, um zu gratulieren und sich mit ihm freuen – denn dass eines fernen Tages noch mal so ein fröhliches Fest stattfinden würde, hätte kaum einer gedacht, als 1979 eine große Illustrierte mit der Geschichte erschien: „Das schreckliche Sterben des Handballers Jo Deckarm.“ Es war nur die halbe Wahrheit. Inzwischen wissen wir die volle, und sie steht als Titel auf seiner Biografie: „Die zwei Leben des Joachim Deckarm.“

Das erste Leben endet mit der erschütternden Szene, die es noch verschwommen auf Videos gibt. Budapest, 30. März 1979. Der VfL Gummersbach spielt im Europacup der Landesmeister bei Banyasz Tatabanya, und der Star ist der Weltmeister Deckarm. Er ist 25 und ein Idol seiner Zeit. „Goldarm“ nennen sie ihn, und Bundestrainer Vlado Stenzel sagt: „Er ist der beste Handballer der Welt.“ In der 23. Spielminute, es ist 17.15 Uhr, stürzt Deckarm – und knallt mit dem Kopf auf den Betonboden der alten Halle.

Doppelter Schädelbasisbruch, Hirnhautriss, Quetschungen, schweres Schädel-Hirn-Trauma. 131 Tage im Koma. Drei Jahre verbringt er in Reha-Zentren, er gilt als Pflegefall, die Ärzte und Neurologen resignieren. Ein zerstörtes Leben. Dieser früher fast unbesiegbare Modellathlet, 194 Zentimeter, 85 Kilo, sitzt im Rollstuhl, der hochintelligente Mathematikstudent ist über Nacht geistig reduziert auf den Stand eines Kleinkinds.

Doch einer will es nicht wahrhaben: Werner Hürter, sein alter Trainer. Er kennt Jo. Er schreibt sein Gedicht, und Schritt für Schritt geht er mit Deckarm den Weg in das zweite Leben. Bewegungstherapie. Muskelaufbau. Gedächtnisschulung. Sie sind Dauergäste im Traumatologischen Institut der Uniklinik in Freiburg, und dort staunt der Arzt Klümper, wie Hürter seinen Schützling anfangs „wie einen Sack auf den Schultern in die Klinik schleift“.

Jo Deckarm lernt das Leben von vorne. Sprechen. Denken. Gehen. Essen. Schreiben. 13 Jahre arbeitet Hürter mit ihm, und als der Trainer stirbt, setzen dessen Freund Albert Hippchen, ein pensionierter Polizist, und Rainer Peters, ein Regierungsschulrat, den Hilfsplan fort. Und Deckarm macht Fortschritte. Sprache. Erinnerung. Konzentration. Rechnen. Er liest Zeitungen. Spielt Schach. Übt am Computer. Und notiert stolz: „Neuer persönlicher Rekord im Gehen: 200 Meter ohne fremde Hilfe.“ Vier Stunden Sport, jeden Tag. Gleichgewichtsübungen. Motorikschulung. Wir waren dabei, und schon morgens um neun ging es auf der Gymnastikmatte zur Sache.

„Auf, Jo“, sagte Hippchen, „zeig mir, wie du in Form bist!“ Und sein Schützling zeigte es ihm. „Wer rastet, der rostet“, sagte Jo. Dann kam das Schwimmen. „Joachim, wie viel ist 12 plus 5?“, fragte Betreuer Peters vom Beckenrand. „17“, rief Deckarm aus dem Wasser, kraulte weiter und bekam gleich die nächste Rechenaufgabe. Bewegen und überlegen, Denksport für Körper und Kopf. Schritt für Schritt ging es zurück ins Leben, auf dem Ergometer trat er irgendwann wieder mit 200 Watt in die Pedale, und an einem sonnigen Tag ließ sich Deckarm einen Fallschirm umschnallen und segelte im Tandem mit Eberhard Gienger, dem Ex-Meisterturner, vom Himmel.

„Aufstecken“, sagte er, „ist nicht meine Art.“

Seit 2002 lebt Jo Deckarm in einem Heim für betreutes Wohnen. Sein Zustand erlaubt ihm ein kontrolliertes Leben, und diszipliniert trainiert er weiterhin seine 20 Stunden in der Woche, damit es so bleibt es – wofür er sogar ausgezeichnet wurde mit einem Preis für „unbändigen Lebenswillen“. Den hat ihm auch Heiner Brand, sein alter WM-Kumpel, persönlich bescheinigt: „Es ist großartig, was Jo aus sich gemacht hat.“

Keiner würde sich deshalb wundern, wenn die WM-Helden von 1978 ihrem einstigen Scharfschützen morgen ein Ständchen bringen. Sie laden ihn immer wieder zu ihren Treffen ein, und bei einem gemeinsamen Ausflug auf die Schwäbische Alb wurde er einmal gefragt, wie er sich unter den alten Kumpels denn so fühlt. „Wie ein Weltmeister“, sagte Deckarm.

„Joachim hat manches vergessen“, hat sein Betreuer Peters an jenem Tag im Schwimmbad gesagt, „aber er weiß genau, wer er war.“

Der Beste.