Es ist Weihnachten und der Fußballer erschrickt – wie bringt er drei Tage in seinem vollen Kalender unter? StZ-Kolumnist Oskar Beck sucht die Antwort.

Stuttgart - Die Frage, wie viele Menschen Weihnachten entweder gar nicht feiern oder zumindest anders, verträgt kaum das Schnaufen. Auf den Färöer etwa ist jetzt drei Wochen lang frohes Fest, bei den Russen erst am 7. Januar, die Zeugen Jehovas verweigern sich komplett – und falls unsere moslemischen Mitbürger einen Tannenbaum aufstellen, dann höchstens als Zimmerpflanze.

 

Doch der Gipfel ist jetzt vollends, was wir aus München hören: Auch der FC Bayern zieht nicht mit. Knallhart hat der Vorstandsvorsitzende Kalle Rummenigge erklärt: „Meisterschale und Pokale liegen noch nicht unterm Christbaum. Fußballweihnachten ist erst im Mai.“

Die Fußballer ticken anders, und die Bayern sowieso. Schon Franz Beckenbauer saß einst morgens beim Frühstück, da fiel dem Werbekaiser siedend heiß ein: „Ja, ist denn heit’ scho Weihnachten?“

Fußballstars erstaunen sich über Weihnachten

Noch gestern hätte das keiner geahnt. Man sieht ja Heiligabend praktisch gar nicht mehr kommen vor lauter Bällen, die man in dieser hysterischen Welt des modernen Fußballs um die Ohren kriegt, und auch diesmal war der Teufel los bis zuletzt: Ribéry sieht Rot, Wolfsburg holt Schuster, Löw schüttelt in puncto Italien rückwirkend über sich selbst den Kopf, der VfB setzt zehn Millionen in den Sand, Wolfsburg nimmt statt Schuster doch lieber Hecking – aber dann, als Uli Hoeneß den ganzen Samstag verstreichen ließ, ohne Gift und Galle zu spucken, war klar:

Es weihnachtet!

Glaubhaften Schätzungen zufolge werden sieben von zehn Fußballstars völlig entgeistert reagieren, wenn ihnen die Frau heute Morgen eröffnet, dass Heiligabend ist – darunter zweifellos auch der Nürnberger Sportchef Martin Bader. Tagelang hat der vorwärts und rückwärts seinen Trainer Hecking zum Bleiben bekniet und kriegt jetzt große Augen: Ach, ja – Weihnachten.

Diese Nachricht erwischt so manchen Kicker auf dem falschen Fuß, und aufgescheucht bestellt er heute morgen noch geschwind einen Christbaum, notfalls bei Fleurop. Ein Fußballer hat den Kopf mit anderen Pflichten voll, sein Jahr ist gespickt mit Spielen und Werbeterminen, und Weihnachten passt da streng genommen nicht auch noch mit rein. Nur: wann sonst soll er zur Besinnung kommen? Schon der Ex-Nationalstürmer Thomas Doll erkannte anlässlich der Festtage einmal verblüfft: „Meiner Tochter sind die Milchzähne ausgefallen – das ist wichtiger als jeder Fallrückzieher.“ Ist der Fußball womöglich nur halb so wichtig, wie er glaubt? Das ist die Frage, die einem an Weihnachten durch den Kopf schießt, und für die Antwort haben wir drei Tage. Aber stehen wir sie durch?

Drei Tage hat der Fußballer seine Ruhe

Drei besinnliche Tage können sich für einen vom Ballaballa-Syndrom befallenen Süchtigen zäh in die Länge ziehen. Nach der Tragödie von Robert Enke hat sich der Fußball geschlossen die ewige Nachdenklichkeit geschworen, aber nach drei Tagen war sie vergessen. Drei Tage? Ein rettungslos Fußballinfizierter braucht seinen täglichen Schuss, der Zirkus muss tanzen, mit seinen Schwalben im Strafraum, den Pyromanen auf der Tribüne, den Heulern in den Revolverblättern, den Schimpfkanonaden vor den Mikrofonen und den Rudelbildungen aller Art.

Wenn es Weihnachten nicht gäbe, müssten wir es erfinden. Das Leben ist zu kurz, um die Vorteile dieser drei stillen Tage auszuschlagen – kein Wettskandal, kein Sepp Blatter, keine zündelnden Hooligans, keine Schicksalsspiele, die Hymnendebatte ruht, und vor allem die Fußballer haben die einmalige Chance, das Fest zu nutzen. Wenigstens drei Tage lang hat selbst der begehrteste Torjäger endlich mal Zeit, um zu schauen, ob die Frau noch da ist, die Kinder in der Schule mitkommen und die Großeltern noch leben – und heute Abend darf er den Kleinen das Smartphone und das iPod unter den Christbaum legen und bei „Stille Nacht“ im Kerzenschein gerührt sagen: „Kinder, vergesst nie, dass es auf dieser Welt immer noch Menschen gibt, die ihre Weihnachtslieder selbst singen müssen.“

Weihnachten ist wie ein warmer Pausentee zum Verschnaufen – es sind die einzigen drei Tage im Fußballjahr, an denen nicht nur in den ersten 12 Minuten und 12 Sekunden geschwiegen wird.

Geklärt wird nun erstmal nichts

Genießen wir sie also – diese einzigartige Auszeit von heute bis übermorgen, in der sämtliche Rädchendreher des Fußballtheaters im Kreis ihrer Lieben für 72 Stunden an den Christbaum gefesselt sind, mit gebundenen Händen. Wenigstens einmal im Jahr wollen alle Mensch sein und abschalten, die Führungsbosse, die Fußballer, die Fans, die Fernsehfuzzis und wir Federhalter, und drei Tage lang wird der eine vom anderen nicht einmal angelogen. Auch Dieter Hecking wird über Weihnachten keinen Meineid mehr ablegen wie neulich im „Doppelpass“ bei Sport 1, als er zur Frage Wolfsburg beim Augenlicht aller Zuhörer schwor: „Ein Angebot würde ich mir nicht anhören. Ich habe mit dem 1. FC Nürnberg einen tollen Arbeitgeber.“

Das war, werden böse Zungen jetzt sagen, die zweitinfamste Lüge der Fußballgeschichte, dicht hinter Ex-Bundespräsident Heinrich Lübke, der sich nach dem niederträchtigen Wembley-Tor in die abwegige Behauptung verstieg: „Der Ball war drin.“ Das war 1966 – und warum wir immer noch keinen Videobeweis haben, muss dringend geklärt werden. Aber nicht jetzt.

Es ist Weihnachten.