Marktschreier sind gefragt. Auch die dicke Lippe des Boxers Shannon Briggs zahlt sich aus. Der Amerikaner kriegt seinen Kampf gegen Wladimir Klitschko – nur dank seiner penetranten Art, findet Oskar Beck.

Stuttgart - Beginnen wir mit der Millionenfrage: Wie wird man in der modernen Leistungsgesellschaft am besten reich – muss man a) etwas können oder b) einen Geldtransport überfallen?

 

Richtig ist c): Man muss das Maul aufmachen.

Wie es geht, steht schon in der Bibel, jedenfalls in der deutschen Fußballbibel „3:2“ – in jenen Erinnerungen an den WM-Sieg 1954 schildert der Kapitän Fritz Walter das tägliche Ritual seines Zimmerkollegen, der Stimmungskanone Helmut („Boss“) Rahn, so: „In aller Herrgottsfrühe steht er auf dem Balkon und imitiert in zwerchfellerschütterndem Tonfall seine geliebte Essener Marktfrau: Prima schnittfeste Tomaten heute, Leute! Kauft die prima Oma-Lutsch-Birnen!“

Schon damals war die Marktschreierei das Gelbe vom Ei, und spätestens jetzt zweifelt kein Mensch mehr daran, denn auch Shannon Briggs ist am Ziel. Monatelang hat der sich wie ein Heringsverkäufer auf dem Fischmarkt das Maul fusselig geredet, und nun winkt ihm tatsächlich der Sechser im Lotto. Der Weltmeister im Schwergewicht hat ihm dieser Tage die offene Schlägerei angeboten, denn Wladimir Klitschko tun die Ohren weh und er droht: „Briggs hat die Grenzen des guten Geschmacks überschritten. Ich möchte ihn für seine Frechheiten bestrafen.“

Monatelang ist der Lautsprecher dem Boxkönig auf die Nerven gegangen, denn auf Schritt und Tritt hat er ihn durch die Welt verfolgt und an jeder Ecke gebellt: „Kämpf endlich gegen mich, Champ!“

Rostbeule im Rentnerparadies

Dabei gibt es für diesen Kampf keinen Grund. Seit Jahren hat Briggs nicht mehr geboxt. Er war einmal „Shannon the Cannon“, die Kanone, aber das war im vergangenen Jahrtausend. Heute lebt er als 43-jährige Rostbeule im Rentnerparadies Florida, der Flecken heißt Hollywood, und weil Klitschko im dortigen Lucky Street Boxing Gym oft trainiert und in der Pizzeria Mama Mia gerne isst, verfolgt ihn Briggs wie ein Stalker: Er gabelt ihm die Pasta vom Teller, randaliert beim Training, stört seine Pressekonferenzen oder jagt ihn mit einem Motorboot, bis der Ukrainer vom Padelbrett ins Meer stürzt.

Der Boxmarkt funktioniert wie ein Obstmarkt oder ein Fischmarkt, und haben die Heringe nicht schon bei Muhammad Ali gebissen, dem zungenfertigen Erfinder der Marktschreierei und Mundpropaganda?

Briggs ist ein Dieb. Er klaut, er kupfert ab, er ist ein Großmaul für Arme. Ali war das kreative Großmaul. Als er noch Cassius Clay und die „Lippe von Louisville“ war, in den frühen 60ern, verfolgte er den damaligen Weltmeister Sonny Liston bis ins Casino des Thunderbirds in Las Vegas, brüllte „Du hässlicher Bär!“ und quasselte über Listons Verbindungen zum organisierten Verbrechen, bis der, aufs Blut gereizt, vom Spieltisch aufsprang, eine Pistole zog und schrie: „Pass auf, du Pfeife, wenn du nicht in zehn Sekunden verschwindest, reiße ich dir deine Zunge raus und steck sie dir hinten rein!“ Liston stellte sich schließlich zum Kampf, und Ali gewann.

Die Grenze zwischen PR-Show und wahrer Wut

Die große Klappe siegt. Denn das ist der Kitzel, der die Kassen füllt, und kein hungriger Boxer scheut seither die Rolle des Kotzbrockens. Vor ein paar Jahren ließ sich ein britischer Lümmel namens David Haye schamlos mit einem abgetrennten Klitschko-Kopf auf dem T-Shirt fotografieren – bis er seinen Kampf bekam. Und jetzt also Briggs. „Die Grenze ist überschritten“, schimpft Klitschko und droht mit Vergeltung, wobei die Grenze zwischen PR-Show und wahrer Wut an der Stelle gerne einmal verschwimmt und man einem Schmierenkomödianten großherzig verzeiht – wenn ein gutes Geschäft winkt, steht beim WM-Sender RTL oder den sonstigen Strippenziehern im Hinterzimmer des Boxgeschäft nicht die Neuverfilmung von „Verdammt in alle Ewigkeit“ im Drehbuch.

Die dicke Lippe von Briggs ist Geld wert. Der Kampf wird kommen, und der alte Ami wird ihn zum Kassenschlager machen und die Werbetrommel rühren, die kannibalischen Töne eines Menschenfressers wird er spucken und sich blutrünstig als Klitschkos Sargnagel aufplusteren. Seine Rechnung geht auf, es winkt ihm noch mal ein großer Zahltag, und das Schmerzensgeld wird gebührend berücksichtigt sein wie schon bei seinem ersten Klitschko-Kampf, gegen Vitali. Der hat ihn damals so verdroschen, dass sie Briggs im Krankenhaus den Kopf wieder auf den Hals setzen und frisch lackieren mussten, und nach dem Kampf gegen den jüngeren Klitschko muss er womöglich vollends mit der Schnabeltasse ernährt werden, und zum Dessert gibt es prima Oma-Lutsch-Birnen, zu Mus gerührt.

Deshalb ist diese letzte große Kampfbörse so wichtig, sie garantiert die beste Pflege – offenbar sieht Shannon Briggs in puncto Altersvorsorge die Dinge ungefähr wie der große Otto Rehhagel, der einst mit dem Satz Aufsehen erregte: „Du musst als Trainer genug verdienen, um mit 50 in der Klapsmühle Erste Klasse liegen zu können.“