Mehmet Scholl hat Mario Gomez hart kritisiert. Der Stürmer beantwortet die Attacken mit drei Toren bei der Fußball-EM.
Stuttgart - Fredi Bobic ist ein Prophet, und den richtigen Ton hat unser Alteuropameister auch noch getroffen, als er vor dem Hollandspiel in „Waldis Club“ sagte: „Ich bin sicher, dass Mario Gomez wieder trifft – dann halten alle die Klappe.“ So spricht ein wahrer Experte.
Jedenfalls ist über Nacht eine wohltuend lähmende Stille eingekehrt unter den vielen Mehmet Scholls und sonstigen Sachverständigen und selbst ernannten Bundestrainern im Land, die Jogi Löw mit ihrem Herrschaftswissen zuvor tagelang beigebracht hatten, was ihm als blutigem Laien verborgen bleibt. Zeitweise pendelte sich bei diesen zusehends unvermeidlichen Facebook-Umfragen die Ablehnung in puncto Gomez bei 80 Prozent ein – was andererseits keinen wundern muss, denn eine andere Erhebung ergab kurz vor der EM, dass jeder dritte Deutsche die Ukraine nach wie vor für einen Teil Russlands hält.
Ob es Mehmet Scholl besser weiß? Auf jeden Fall hält er Gomez salopp gesagt für einen faulen Sack, der weder als Kilometerfresser die volle Breite des Spielfelds noch die Tiefe des Raumes nutzt und in Scholl die Angst weckt, hören wir kurz noch mal rein, „dass er sich wund liegt und mal gewendet werden muss“.
In Wahrheit ist der wunde Punkt der Experte, der den angehenden Torschützenkönig dieser EM wund redet, notfalls auch beleidigend – aber gewendet hat sich jetzt Gott sei Dank nicht der Gomez, sondern das Blatt, und sogar Millionen von Mario-Feinden sind über Nacht umgekippt und fragen sich plötzlich, warum es ausgerechnet Scholl sein muss, der da im Rahmen des grässlichen Irrtums und unter dem Deckmantel des Experten seinen Senf abgeben darf. Bobic wäre treffsicherer.
Warum fragt niemand Gerd Müller?
Oder jener Fußballfan, der in einer Internetdebatte auf den Vorwurf, Gomez bewege sich nicht, weil er die Haare schön hat und sich die Frisur nicht ruinieren will, so antwortete: „Von mir aus kann er sich auch 89 Minuten lang im Strafraum die Brusthaare zupfen, Hauptsache, er macht das Tor.“ Das Dumme im Fernsehen ist ja auch das: die wahren Experten kommen nicht zu Wort. Warum wird nicht Gerd Müller gefragt? „Kleines dickes Müller“ hat ihn sein erster Profitrainer Tschik Cajkovski getauft, und er hatte viel zu kurze Beine, um zu laufen. Im Strafraum hat er sich auf seinen vier Buchstaben ausgeruht und nicht vom Fleck gerührt, aus Angst, dass ihm sonst einer jener Querschläger oder Abpraller entgehen könnte, die er dann mit der Hüfte oder dem Hintern vollends aus zweieinhalb Metern ins Tor verlängert oder gestolpert hat.
Für Scholl und alle, die es nicht mehr wissen: Müller war der „Bomber der Nation“. Neulich kam ein wunderbarer Film über unsere Europameister von 1972, jene sagenhafte Mischung aus Ramba und Zamba. Unter ästhetischen und läuferischen Gesichtspunkten fiel nur einer ab, das war Müller, denn kicken konnte er nur beschränkt, und sein Bewegungsradius war geringer als der Durchmesser seiner Oberschenkel. Professor Jürgen Buschmann von der Sporthochschule Köln hat seine Werte erforscht und festgestellt, dass Müller nicht wie Hacki Wimmer oder Breitner fast 14 Kilometer lief, sondern als Denkmal in sich ruhte, wir zitieren: „Der erfolgreichste Mittelstürmer aller Zeiten hat es in manchem Spiel auf 3,5 Kilometer gebracht, während heute schon die durchschnittliche Laufstrecke eines Torwarts zwischen vier und fünf Kilometern liegt.“ Gomez schafft in den 75 Minuten, die er in der Regel spielt, immerhin fast stattliche neun Kilometer – jedenfalls ist er, verglichen mit Müller, ein versierter Messi und fleißiger Marathonläufer, der an guten Tagen sogar auf den Flügeln gesichtet wird.
Müller hat sich dorthin niemals verirrt. „Wo bin ich?“ hätte er da draußen an der Eckfahne hilflos den Linienrichter fragen müssen, Heimweh nach dem Strafraum hätte er bekommen und nicht mehr zurückgefunden – dorthin, wo er zu Hause war und tat, was zu tun war. Er hat es in seinem Schlager „Dann macht es bum“ so besungen: „Dann macht es bum, ja und dann kracht’s, und alles schreit: Der Müller macht’s! Dann macht es bum, dann gibt’s ein Tor, und alles schreit dann: Müller vor!“
Das schwere Leben eines Strafraumstürmers
Vor, nicht zurück. Wer verlangt hätte, dass Müller einen Schritt nach hinten macht, wäre in die nächstbeste geschlossene Abteilung eingeliefert worden. Vorne war sein Revier, so hat er beispielsweise im Sommer 1970 bei der WM in Mexiko zehn Stück geschossen – aber wie soll das der Scholl noch wissen, der erst 1970 auf die Welt kam?
Gerd Müller wüsste das besser, er war selbst dabei. Er weiß alles über das schwierige Leben als Strafraumstürmer. Das Schlimmste hat er sich selbst eingebrockt mit seinen vielen Toren, denn ob er wollte oder nicht, danach musste er zurück zum Anstoßkreis – und am liebsten hätte er sich anschließend ein Taxi bestellt, um sich wieder in den gegnerischen Strafraum fahren zu lassen. Wie der Müller sich da immer wieder erfolgreich hingeschleppt hat, ist nur damit zu erklären, dass er sich die Kräfte eingeteilt und auf das Wesentliche beschränkt hat – jedenfalls hat keiner gemeckert, dass da einer nichts anderes tat als müllern.
„Ich verbrenne mir nicht die Finger“
Doch von Gomez wird alles erwartet, mindestens die Quadratur des Kreises. Sobald sich dieser Vollstrecker nicht auch noch virtuos verzettelt beim Dauerlauf, stellt der Experte Scholl die Schicksalsfrage der Nation: „Wie lange hält eine Mannschaft das aus?“ Mit Gerd Müller hat sie es lang ausgehalten, aber den fragt ja keiner.
Gefragt wird Scholl. Wenn der aber schlau ist, dann nimmt er sich ein Beispiel an Niki Lauda, der in Erinnerung an seinen Unfall auf dem Nürburging als Formel-1-Experte gelegentlich sagt: „Ich verbrenne mir nicht die Finger – ich habe mir schon die Ohren verbrannt.“ Das ist die hohe Kunst des wahren Experten – und der Unterschied zu den Dampfplauderern, die aus aufgeblasenen Backen heiße Luft ablassen.