Der alte VfB-Aufstiegsheld Helmut Dietterle will im Pokalfinale an diesem Donnerstag (12.45 Uhr) als Trainer der SF Dorfmerkingen die Stuttgarter Kickers blamieren.

Stuttgart - Letzten Sonntag hat der VfB seine Auferstehung von den Toten mit der Wiedersehensfeier seiner Aufsteiger von 1977 verknüpft, und die alten Kanonen nutzten die Gunst der Stunde zum nostalgischen Plausch. „Es ging um Gott und die Welt“, sagt Helmut Dietterle. Alte Anekdoten kamen zur Sprache, und hoffentlich auch die Schandtaten, die dringend der Versöhnung bedurften.

 

Wir denken da beispielsweise an die Sache mit Dieter Hoeneß. Der Schwabenpfeil war beim Kopfball bekanntlich eine wandelnde Zeitbombe, aber fußballästhetisch betrachtet kein ungetrübtes Vergnügen, und eines Tages verriet mir Dietterle damals über den großen Blonden unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit: „Wenn du mit ihm Doppelpass spielen willst, musst du ihn anschießen.“

Weil man als Journalist zur Informationspflicht verdonnert ist, ließ sich die schwerwiegende Anschuldigung leider nicht unter den Tisch kehren. „Die VfB-Fans haben ein Recht, es zu erfahren“, erklärte ich Dietterle händeringend, worauf er sich geschlagen gab: „Also gut, schreib’s.“ Als der Satz anderntags in der Zeitung stand, war der Teufel los. „Wir müssen reden!“, verlangte Hoeneß schon frühmorgens durchs Telefon, und er hat uns beide nur deshalb nicht verklagt, weil es die Wahrheit war.

Schwamm drüber. Dieter und Dietterle haben sich letzten Sonntag beim Spiel ohne Ball prächtig vertragen. „Überhaupt war unser VfB-Treffen klasse“, sagt Dietterle, und weil seine Heimkehr nach Stuttgart so schön war, kommt er morgen gleich noch mal. Diesmal zu den Kickers. Und diesmal als Trainer. Seine Sportfreunde Dorfmerkingen treffen im Endspiel um den württembergischen Pokal in Degerloch auf die Blauen.

Dorfmerkingen?

Das ist ein Flecken auf der Ostalb, tausend Seelen. 500 davon fahren unter dem Motto #roadtowaldau in zehn Sonderbussen zum Spiel. Der Fußball verdrängt morgen alles, sogar das örtliche Feuerwehrfest mit der Einweihung des neuen Spritzenwagens. „Dorfmerkingen brennt“, sagt Dietterle. Und zwar lichterloh, nachdem seine Helden letzten Samstag die Köngener 4:0 weggeputzt haben, ist ihnen auch die Meisterschaft in der Landesliga schier sicher. Ein Sponsor ließ extra ein Bier namens „Pokal-Traum“ brauen. Sie hätten es auch „Ostalb-Traum“ nennen können.

Jürgen Sundermann machte Dietterle zum Co-Trainer

Dietterles Albtraum war früher. Damals, anno 75, als er noch VfB-Absteiger war und Trainer Albert Sing in der Stunde null zornig durch Cannstatt rief: „Clubräume ausschwefeln, Eiterbeulen ausdrücken!“ Dietterle war damit nicht gemeint, an ihm lag es nicht. 1974 war er als Amateurnationalspieler aus Aalen gekommen, und als Tausendfüßler sorgte er im VfB-Mittelfeld für Ordnung. Bis ihm im März 75 gegen den HSV die Achillessehne riss. Der VfB stieg ab, und es wurde zunächst nicht besser. Auf Krücken humpelte der Versehrte damals durch den Tiefpunkt der Clubgeschichte. Als er wieder aufrecht gehen konnte, hätte er fast das unvergessliche 2:3 gegen den SSV Reutlingen verhindert, am finsteren Abend des 21. Mai 1976, vor 2500 suizidgefährdeten VfB-Fans im Neckarstadion. Dietterle schoss das 1:0, er zeigte als Letzter noch Willenskraft – vermutlich machte ihn Jürgen Sundermann deshalb 1980 zu seinem Co-Trainer.

„Von ihm habe ich viel gelernt“, sagt Dietterle. Und das mit Erfolg, Dietterle sammelt Titel wie andere Leute Bierkrüge. Mit dem VfR Aalen hat er den WFV-Pokal geholt und den Aufstieg vollbracht, Meister wurde er mit dem FC Heidenheim, TSV Essingen und zweimal mit der TSG Hofherrnweiler, die Dorfmerkinger trainiert er gerade in die dritte Aufstiegsfeier – und wenn er an diesem Donnerstag zum zweiten Mal den WFV-Pokal gewinnt, ist ihm in der Liste der berühmtesten Dorfmerkinger Platz drei sicher, direkt hinter dem Violinvirtuosen Alois Beerhalter (1798 bis 1858) und dem Organisten Otto Gauß (1877 bis 1970).

Warum er nie ins Profigeschäft wollte? „Ich will meine Ruhe“, sagt Dietterle. „Ich mag kein Blabla und Getue. In diesem Zirkus der Eitelkeiten gibt es zu viele Schwätzer, und jeder singt dir was rein.“ Lieber hat er in Aalen die ADAC-Geschäftsstelle geleitet, abends auf den Dörfern seine Jungs trainiert und gezeigt, wie man auf einer Glatze Locken dreht. Sein Ronaldo in Dorfmerkingen heißt Niklas Weißenberger, aber der ist nicht wegen des Geldes gekommen, sondern weil der Spieler Fabian Weiß zu Dietterle sagte: „Trainer, darf ich meinen Kumpel mal mitbringen?“ Weißenberger schießt jetzt im Akkord die Tore und würde zum Wohle der Mannschaft auch einen Flugkopfball gegen die Bordsteinkante nicht scheuen. So kann ein unterklassiger Dorfclub Bäume versetzen, Favoriten blamieren – und vom Einzug in den DFB-Pokal träumen.

Im DFB-Pokal ging es 1998 gegen die Kickers

Sie haben das Wunder 1998 schon einmal vollbracht. Dorfmerkingen düpierte im WFV-Cup-Finale den SSV Ulm, worauf die ARD bei der Auslosung der ersten DFB-Pokal-Runde auf die Ostalb schaltete, und Waldemar Hartmann nahm den Trainer Dietterle ins Verhör.

Was hat Waldi gefragt?

„I woiß nemme“, sagt Dietterle. Er weiß nur noch, dass sie nicht den FC Bayern oder den VfB („Davon träumen hier alle“) in ihrem Stadion an der Felsenstraße als Gegner bekamen, sondern die Kickers. Zoltan Sebescen, die blaue Lichtgestalt jener Tage, schoss das erste Tor, 0:3 ging es aus, aber die Dorfmerkinger zählten hinterher glücklich das Geld: 2500 Zuschauer, Rekordeinnahme. Heutzutage winkt in der ersten DFB-Hauptrunde zudem ein TV-Honorar, eine aus Landesliga-Sicht verblüffende Summe mit vielen Nullen.

Das Fernsehen ist auch an diesem Donnerstag da. Die ARD überträgt den Finaltag der Amateure in einer Livekonferenz, um 12.45 Uhr geht das Spiel in Degerloch los. Die Dorfmerkinger dopen sich vorher daheim mit einem gemeinsamen Frühstück in der Kantine des Sponsors Holzbau Weber und fahren dann gestärkt zum Favoritensturz auf die Waldau. „Wir haben eine Mini-Mini-Mini-Chance“, sagt Dietterle. Also keine. Aber die wollen sie nutzen. Wenn das gelingt, gibt es kein Halten mehr, dann setzt sich halb Dorfmerkingen wieder in die zehn Sonderbusse und singt: „Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin.“ Aber vorher erst noch nach Hause zum Feuerwehrfest.