Der gellende Aufschrei ist groß in Mode: Selbst bei Dopingenthüllungen tun wir ganz überrascht und fallen aus allen Wolken- dabei wissen wir alles. Dieser Meinung ist zumindest StZ-Kolumnist Oskar Beck.

Stuttgart - Wir alle wissen, was passiert, wenn wir beim Metzger 200 Gramm Kalbsleberwurst bestellen. Er schneidet einen Zipfel ab, legt ihn auf die Waage und sagt: „Darf es ein bisschen mehr sein?“ Und schon sind wir beim Thema: der Empörung – denn auch von der gibt es immer öfter ein bisschen mehr.

 

Waren Sie heute schon empört?

Man staunt in lichten Momenten oft selbst, wie verblüfft und entrüstet man jeden Tag auf Dinge reagiert, die man längst weiß. Oder kann man, jetzt mal Hand aufs Herz, wirklich noch ernsthaft entsetzt sein, wenn Jan Ullrich, Erik Zabel oder eine dieser radelnden Apotheken zum x-ten Mal des dreisten Blutpanschens, Pillenschluckens und sonstiger Schlawinereien überführt werden?

„Schamloser Lügner!“ schallt es Zabel dieser Tage aus allen Ecken entgegen, wegen seiner falschen Tränen, die er bei einem früheren Geständnis vergossen hat – dabei weiß doch längst jedes Kind, dass es zur Grundausstattung jedes anspruchsvollen Dopers gehört, notfalls beim Augenlicht aller, die ihm wichtig sind, ungeniert jeden Meineid zu schwören oder Krokodilstränen zu weinen. Wirklich empört sein könnte man allenfalls, wenn sich jetzt herausgestellt hätte, dass er bei seinem damaligen Gefühlsausbruch besonders arglistige Methoden anwandte, also beispielsweise den eigenen Urin über einen Schlauch in ein Gefäß hinter dem Kopf gepumpt und raffiniert durchs Ohr bis zum Auge weitergeleitet hat, wo es dann Mitleid erregend herauströpfelte – aber so war es nicht. Zabel hat einfach nur gut geheult und das getan, was wir alle schon wussten.

Die wachsende Empörung hat Saison und füllt das Sommerloch

Scheinbar total platt und völlig von den Socken waren viele auch neulich, als Tyson Gay und Asafa Powell erwischt wurden – unter dem hysterischen Eilmeldungsmotto „Wer hätte das gedacht!?“ wurden ganze Sonderseiten gefüllt, und TV-Experten zeigten sich fix und fertig und polterten gegen den „Bärendienst“, den die beiden dem Sport erwiesen haben – dabei war doch höchstens überraschend, dass sie nicht früher erwischt wurden.

Die wachsende Empörung hat Saison, sie füllt das Sommerloch. Wir tun so, als ob wir soeben erst erfahren, dass wir von A(rmstrong) bis Z(abel) angelogen werden und uns ein ständiges X für ein U (wie Ullrich) vorgemacht wird – und spontan muss man an der Stelle jenen US-General zitieren, der neulich in einem ZDF-Interview über unser jähes deutsches Entsetzen ob der geheimen Spähtrupps des amerikanischen Geheimdiensts so herrlich spottete: „Die Reaktionen erinnern an die gespielte Empörung von Inspektor Renault in jener Filmszene in ,Casablanca’, als er informiert wird, dass in Rick’s Café Glücksspiel stattfindet.“

In Wahrheit war der Polizeichef Renault als Stammgast in Rick’s Café über alles im Bilde – so wie wir Sportsfreunde seit langem wissen, dass der Gewinn einer Goldmedaille in manchen Disziplinen dem Ablegen eines lückenlosen Geständnisses gleichkommt und Hardliner sogar dafür plädieren, beispielsweise das Feld im Finale eines 100-Meter-Laufs komplett in Handschellen abzuführen und in Vorbeugehaft zu nehmen.

Wenn Bolt überführt wird, fallen alle aus allen Wolken

Trotzdem geben sich viele völlig überrumpelt und baff, wenn Gay und Powell auffliegen – und man mag gar nicht dran denken, wie der ungläubige Aufschrei erst ausfallen würde, falls Usain Bolt einmal erwischt wird. Dabei trichtern uns Sachverständige seit Jahren ein, dass der auf seiner einsamen Karibikinsel kaum kontrolliert wird und dass das, was man von ihm sieht, fast zu schön ist, um noch wahr zu sein, so wie letztes Wochenende vor 60 000 staunenden Augenpaaren in London: In gefühlten fünf Sekunden ist Bolt die 100 Meter heruntergebrettert, auf Wunsch macht er es womöglich auch mit verbundenen Augen und winkt ins Publikum – aber wehe, er wird irgendwann überführt, dann fallen alle aus allen Wolken. Dabei wissen die Engländer am allerbesten, wie dünn gesät die Tadellosen sind – ihr berühmter Dichter Noel Coward soll einmal 20 prominenten Londonern anonyme Briefe mit dem Rat geschickt haben: „Alles ist entdeckt. Fliehe, solange noch Gelegenheit ist!!“ 17 verließen mit unbekanntem Ziel auf der Stelle die Stadt.

Der Aufschrei der Empörung ist der letzte Schrei

So sieht es aus, spätestens seit diesen beiden Zahlen weiß der Mensch eigentlich alles, was er über sich wissen muss – aber wenn dann ein Doper erwischt wird, tanzt die Überraschung mit der Entrüstung plötzlich Tango. Oder neulich, da hat der französische Präsident Hollande sich die Amerikaner vorgeknöpft, bis er in der Zeitung las, dass sein eigener Geheimdienst mit vergleichbaren Praktiken aufwartet. Gellend war auch der Aufschrei, den Uli Hoeneß mit seiner Selbstanzeige verursacht hat. „Ausgerechnet Hoeneß!“, hieß es – als ob ausgerechnet Hoeneß nicht zu uns allen gehört, die mit gefalteten Händen täglich beten: Herr, führe uns nicht in Versuchung, wir könnten ihr erliegen. Alle waren plötzlich ganz fassungslos, dass der Bayern-Boss tatsächlich so ist, wie sie ihn seit dreißig Jahren („A cleverer Hund isser scho!“) bewundern.

Der Aufschrei der Empörung ist der letzte Schrei, und am unüberhörbarsten trifft er im Moment Erik Zabel, weil der zu seinem Tränenauftritt seinerzeit auch noch den eigenen Sohn benutzt hat – und bis vor ein paar Tagen, heißt es, habe der dem Vater ahnungslos geglaubt. Der Sohn heißt übrigens Rick – wie der Wirt in „Rick’s Cafe“ in „Casablanca“, in dem Inspektor Renault ein und ausging, aber hellauf empört war, als er plötzlich hörte, dass dort heimlich Poker und Roulette gespielt wird.