Der StZ-Kolumnist Oskar Beck findet, dass die Stuttgarter im wichtigen Spiel des VfB gegen den HSV zusammenhalten müssen. Deshalb: die Hamburger steigen ab. Keine Frage.

Stuttgart - In Hamburg gibt es einen Friedhof für Fans. Im Zeichen der HSV-Raute kann man sich dort zur letzten Ruhe betten. Die Nachfrage verläuft allerdings schleppend: Entweder tendieren die Hanseaten auch im Fußball zur Seebestattung – oder die Lebensmüden bäumen sich nochmal auf, weil sie glauben, dass es der HSV im Abstiegskampf doch noch packt.

 

Was natürlich der blanke Unsinn ist.

Die Chance des HSV ist so groß wie die einer Sau beim Metzger. Ganz bewusst vergreifen wir uns da im Ton, es geht uns wie Barcelonas Trainer Luis Enrique, der vor dem Spiel gegen den FC Bayern offen sagte: „Wir wollen Schaden anrichten.“

Wir auch. Wir Schwaben müssen jetzt zusammenhalten und Unheil anrichten auf Kosten des HSV. „Steht auf, wenn ihr Schwaben seid!“, befiehlt uns das elfte Gebot – aber als Kolumnist muss man eher hinhocken und in die Tasten hauen, um den HSV (psychologische Kriegsführung!) seelisch und polemisch zugrunde zu richten und zusammenzustauchen auf Einsfünfzig (mit Hut).

Die Mannschaft spielt wie gelähmt

Sagen wir es also ohne faule Kompromisse: In der Haut der HSV-Fans möchte keiner stecken. Wie gelähmt spielte die Mannschaft zuletzt gegen Freiburg, sie ist unter Bruno Labbadia inzwischen wieder dort angelangt, wo Labbadia sie neulich übernahm. Das war nach dem Spiel gegen Wolfsburg, als Verteidigerveteran Heiko Westermann jammerte: „Die zweite Halbzeit hatte nichts mehr mit Fußball zu tun.“ Ein aufgescheuchter Hühnerhaufen übte sich derart im Chaos, dass sich viele fragten: Kann ein Huhn ohne Kopf noch laufen?

Die Antwort ist ja: Ein totes Huhn kann noch flattern. Denn die Bewegungen eines Huhns werden nicht nur vom Gehirn gesteuert, sondern von den Nervenzellen im Rückenmark – und deshalb rennt es noch, unkontrolliert und orientierungslos zwar, aber es rennt. Wie der HSV. Ist er womöglich schon tot?

Jeder anständige alte HSV-Fan leidet unter Panikattacken, pfeift auf dem letzten Zahn seine Wut heraus, verweigert die Nahrungsaufnahme und fragt sich, ob es nicht Zeit ist, zum zweitklassigen FC St. Pauli überzulaufen, der letztes Wochenende beim 2:0 in Kaiserslautern gezeigt hat, wie Abstiegskampf geht.

Uwe war der HSV

Selbst von Uwe Seeler hört man nichts mehr, 78-jährig hat der Legendäre seine jahrzehntelange Standardaussage („Ich mache mir Sorgen um meinen HSV“) an den Nagel gehängt und wortlos kapituliert. Ach, waren das Zeiten, als Uwe sich noch gutgelaunt in einem TV-Werbespot vor dem Spiegel mit Rasierwasser einrieb und dazu unbeschwert die Melodie vor sich hinpfiff aus „Im Frühtau zu Berge wir zieh’n.“ Uwe war der HSV.

Er war uns Uwe, euer Uwe und mein Uwe, und der HSV hatte noch ein klares Konzept: Flanke von Charly Dörfel, Kopfball von Uwe und Tor. Der Dicke hat den Kopf hingehalten und vor allem nie hängen lassen – und selbst im Hinterkopf, mit dem er es den Engländern bei der WM 1970 besorgte, hatte er mehr Gefühl als alle heutigen HSV-Kopflosen. Sogar als er sich mit gerissener Achillessehne einst brüllend am Boden krümmte, sein Wadenmuskel haltlos im Nichts hing und das Bein keinerlei Kontrolle mehr hatte, war er immer noch gefährlicher als die komplette HSV-Offensive letzte Woche. Als der Freiburger Mannschaftsbus am Hamburger Stadion ankam und ein paar Spieler zu schlottern begannen angesichts des dort in mächtige Bronze gegossenen Fußes von Uwe (vier Tonnen schwer, fünf Meter breit, drei Meter hoch), soll Trainer Christian Streich beruhigend auf seine Schwarzwälder eingewirkt haben: „Keine Angst, Jungs, das ist nicht der Fuß von Lasogga.“

Nur noch Pflegefälle am Start

Auch Seelers Fallrückzieher und Kopfballtorpedos sieht man von den heutigen HSV-Pflegefällen nicht mehr, sondern muss sie mit einem Uwe-Klick auf YouTube abrufen. Womöglich findet sich dort sogar noch der kurze Dialog, mit dem sich Seeler einst als HSV-Präsident empfahl. Einer fragte skeptisch: „Was ist dein Konzept, Uwe?“ Worauf Uwe sagte: „Das Konzept bin ich.“ Basta.

Wo ist heute das Konzept?

Die Art, wie der HSV neulich Labbadia als Trainer entdeckte, erinnert an Kolumbus, der nach Indien wollte, sich verfuhr und aus Versehen Amerika entdeckte. Der HSV wollte ursprünglich Thomas Tuchel und debattierte wochenlang über die langfristige glorreiche Zukunft mit dem Wunschtrainer, statt sich zu fragen: „Sollten wir nicht erst einmal schauen, dass wir nicht kurzfristig absteigen?“ Der Höhepunkt beim Stochern mit der Stange im Nebel war dann vollends erreicht, als sich Sportdirektor Peter Knäbel vor den Spiegel stellte und sich befahl: „Du bist ab sofort Trainer.“ „Wie du meinst, Peter“, nickte Knäbel.

Das war die erstaunlichste Entscheidung, seit der römische Kaiser Caligula sein Pferd zum Konsul machen wollte, denn als Trainer hatte sich Knäbel vorher nur beim FC Winterthur versucht. Die zwei Spiele, die er dann durchhielt, reichten zwar für keinen Punkt, aber immerhin für die Frage von Felix Magath: „Glaubt jeder, der einmal gekickt hat, dass er in der Bundesliga trainieren kann?“

Auch Magath stammt aus jener untergegangenen Zeit, als der HSV noch der HSV war. Er hat die tollsten Trainer erlebt. Gewiss, auch die hatten manchmal Sorgen, und Branko Zebec hat sie (womöglich als Folgeschaden seiner VfB-Trainerzeit) sogar im Cognac ertränkt. „Fernet Branco“ nannten ihn die Spottgoschen, und einmal verpasste er die Abfahrt des HSV-Mannschaftsbusses nach Dortmund. In Schlangenlinien jagte er mit angeblich 3,25 Promille im Mietwagen auf der Autobahn hinterher, wurde von der Polizei ins Stadion gebracht und verschlief das 2:2 statt auf der Bank dann im HSV-Bus, aber am Wesentlichen änderte das nichts – „er ist“, sagte Manager Günter Netzer, „der beste Trainer der Welt.“

Happel war der beste Trainer der Welt

Dann kam Ernst Happel, der nächste beste Trainer der Welt. Das „Pressing“ erfand der Wiener. An seinen griesgrämigen Tagen beschränkte er die analytische Nachbetrachtung eines Spiels aber auf einen einzigen Satz, den er oft noch mit einem Hustenanfall auf halbem Weg abbrach – bösen Zungen zufolge sagte er sogar auf seiner späteren Trainerstation in Tirol zu seinem Spielmacher Hansi Müller, als der ihn um ein Gespräch bat: „Wann S’ reden wollen, müssen S’ Staubsaugervertreter werden.“ Happel hat wenig geredet, aber mit dem HSV alles gewonnen, auch den Landesmeistercup, außer Plan A hatte der Tüftler immer einen Plan B, und Plan C beschrieb Mittelstürmer Horst Hrubesch mit einem Seitenblick auf Flankenwunder Manfred Kaltz so: „Manni Banane, ich Kopf – Tor.“ Wie bei Uwe und Charly, nur von rechts. Heute? Von nirgends.

Der HSV ist nicht mehr der HSV. Stolz ist nur noch der Preis für das Grab auf dem Friedhof. Für 25 Jahre (mit Sargbestattung) kostet beispielsweise die Ruhestätte „Einzelspieler“ den Fan 7475 Euro – auch da sind wir Schwaben in unserer Sparsamkeit pfiffiger: Wir lassen uns nur bis zum Bauch beerdigen, damit wir das Grab selbst pflegen können. Nichts spricht also für die Hamburger, und man fragt sich: Welchen letzten Trumpf fingern sie nach der Niederlage gegen den VfB noch aus dem Ärmel? Denkbar wäre, dass sie Mirko Slomka oder Joe Zinnbauer zurückholen, oder Vorstandschef Didi Beiersdorfer wird noch geschwind Trainer und stellt im letzten Spiel gegen Schalke seine Allzweckwaffe Peter Knäbel ins Tor – das hätte dann sogar irgendwie Sinn, denn wie sagte der große Dramatiker Jean Genet: „Auch ein perfektes Chaos ist etwas Vollkommenes.“ Ach ja, und Uwe wird man vermutlich bitten, dass er am Ende die HSV-Uhr im Stadion abstellt.

Im Moment ist es 5 nach 12.