Es gibt Kult-Blondinen, Kult-Sänger und es gibt Kult-Fußballer. Und einer dieser Kult-Kicker bedroht jetzt zum Rückrundenauftakt der Bundesliga am Samstag den VfB, wie der StZ-Kolumnist Oskar Beck schreibt: der Weltmeister Christoph Kramer.

Stuttgart - In den psychologischen Beratungsstellen und bei der Telefonseelsorge melden sich immer mehr unzufriedene und verzweifelte Menschen mit der sehnsüchtigen Frage: Wie werde ich Kultfigur?

 

Antwort: Im Handumdrehen.

Falls Sie beispielsweise im neunten Monat schwanger sind: Starten Sie einfach zu einer Bergwanderung durch die Zillertaler Alpen, nehmen Sie „RTL“ und „Bild“ mit, entbinden Sie auf dem Gipfel des Hochfeilers von dreiköpfigen Fünflingen – und schon sind Sie Kult.

Das Wichtigste also gleich vorweg: es ist hanebüchener Unsinn, dass Kult von Kultur kommt. In Wahrheit entscheiden über den Kultstatus die ständig wachsenden Anhängerscharen der Massenkultur, und der Nachweis einer überragenden kulturellen Leistung wäre deshalb das Dümmste, was Sie tun könnten.

K wie Küblböck

Verlangt sind speziellere Qualitäten, und es ist vermutlich kein Zufall, dass Kult mit K anfängt, wie Küblböck. Der gelernte Kindergärtner Daniel Küblböck war auf der Kultbühne der modernen Medien einst ein Pionier und dank seiner schrillen Art stets präsent, entweder in „Deutschland sucht den Superstar“ oder in der Dschungelshow „Ich bin ein Star, holt mich hier raus!“ – aber genauso, als er in Niederbayern frontal mit einem mit Essiggurken beladenen LKW kollidierte.

Es gibt mittlerweile Kultfiguren aller Art. Die Bandbreite reicht zum Beispiel von Daniela Katzenberger, der „Kult-Blondine“, bis zum einstigen Fußball-Nationaltorwart Tim Wiese, der als „Kult-Keeper“ gilt, seit er eine Karriere als Catcher startet und sich die Tattoos so raumfüllend stechen lässt, dass sie sich von den Muckis demnächst an den Ohren vorbei über den Hals und den Rücken vollends in Richtung jenes Schlitzes schlängeln, der den Hintern in zwei Backen teilt. Oder Diego Maradona – der wurde vollends zum Kultobjekt, als er sich den Magen halbieren ließ, mit dem Luftgewehr auf Journalisten schoss und nach einem Sieg in der Pressekonferenz rief: „Jetzt könnt ihr mir alle mal einen bla...“

Noch verrückter hat es höchstens Christoph Kramer zum Kultstar gebracht.

Vom Niemand zum Dauerthema

Der junge Mann, der zum Rückrundenstart der Bundesliga mit seinen Gladbachern am Samstag beim VfB gastiert, ist auch eines dieser rätselhaften Phänomene der Massenkultur. Seit der WM wurde über Kramer mehr geredet als über die meisten sonstigen Weltmeister. Vorher war er ein ziemlicher Niemand, dank der Personalnot rutschte er als Letzter in den Kader und beim WM-Finale für den verletzten Khedira dann auch noch in letzter Sekunde auf den Platz. Aber um Kult zu werden, genügen notfalls drei Kurzeinsätze mit 41 WM-Minuten, sofern ein zündender Dialog mit Filmriss dabei ist wie in Rio, als Kramer mit brummender Birne wie ein groggy geschlagener Boxer in Richtung Nicola Rizzoli taumelte und den Mann mit der Pfeife fragte: „Hey, Schiri, was ist das für ein Spiel hier?“

„Das WM-Finale“, verriet der Italiener dem verblüfften Deutschen, der darauf ungefähr antwortete: „Danke. Es ist wichtig, dass ich das weiß. Da drüben läuft Signore Schweinsteiger, könnten Sie ihm kurz sagen, dass ich bewusstlos bin?“

Seither ist Kramer Kult, denn er ist der erste Fußballer mit Gehirnerschütterung, der Weltmeister wurde. „Kramer arbeitet weiter an seinem Kultstatus“, heißen immer wieder die Überschriften, denn entweder schießt er ein atemberaubendes Eigentor aus 45 Metern wie gegen Dortmund, oder er knöpft sich Berti Vogts vor, weil der öffentlich zu fragen wagte, warum Kramer eigentlich Kult ist. „Herzlich wenig“ habe dieser Jung-Borusse zum WM-Titel beigetragen, fand der Alt-Borusse Vogts, und die Außendarstellung Kramers, bellte der alte, bissige Terrier ergänzend, „hätte ihm zu unseren Zeiten Probleme bereitet, im Team und mit dem Trainer.“

Frei übersetzt: Damals, im Urgladbach unter Hennes Weisweiler, hätten sie so einen im Training an den Pfosten gebunden und den Netzer Freistöße auf ihn schießen lassen, zwischen die Augen.

Blutgrätsche gegen Berti Vogts

Kramers Antwort an Berti Vogts ist bekannt, es war die Blutgrätsche eines defensiv orientierten Mittelfeldspielers, hören wir nochmals kurz rein: „Ich werde mich jetzt nicht mit irgendwelchen Leuten beschäftigen, die vor 40 Jahren mal gegen den Ball getreten haben.“ Als alten Sack von vorgestern hat er Berti hingestellt, aber Kultfiguren dürfen das, ja vielleicht müssen sie es sogar – hat nicht schon Rudi Völler in seiner historischen Wutrede Günter Netzer erst fuchsteufelswild als „Standfußballer“ beschimpfen müssen, eher er als „Ruuuuuuuuuudi“ bei uns richtig Kult wurde?

Um Kramer wird es irgendwann ruhiger, dachten dann viele, aber da war ja auch noch die Frage: Wo spielt er in der nächsten Saison? Bekanntlich ist er an Gladbach nur ausgeliehen von Bayer Leverkusen, das einen rechtsgültigenden Vertrag mit ihm hat. Doch eine Kultfigur hat eigene Gesetze, und die Gedächtnisstörung aus dem WM-Finale scheint zeitweise immer noch zu wirken, jedenfalls drohte Kramer seinen Leverkusener Besitzern erst einmal: „Wenn ich irgendwo nicht spielen möchte, spiele ich da nicht. Dann kann der Vertrag aussehen, wie er will.“ In seiner Trotzigkeit erweckte er vorübergehend sogar den Eindruck, als betrachte er Fußballer als entrechtete Geknechtete, die schlimmstenfalls von gierigen Menschenhändlern mit blutigen Peitschenhieben auf eine Galeere gezwungen und vom Niederrhein aus nach Leverkusen verschifft werden, mit einem Sklavenschild um den Kickerhals.

Kurz danach hat er die Dinge dann aber grundlegend anders gesehen. Den Vertrag mit Leverkusen hat er inzwischen sogar um zwei Jahre verlängert und als Begründung „das überzeugende Bayer-Konzept“ angegeben. Andere hätten Kohle gesagt, Kramer nennt es Konzept – auch das ist irgendwie kultig.

Wie geht es jetzt weiter? Was kommt als Nächstes? Wann holt Kramer sein viel zitiertes, über Jahre geführtes Tagebuch wieder aus dem Tresor und stellt damit die 256 Seiten dicke, gebundene Vorgängerausgabe von Lothar Matthäus („Mein Tagebuch“, 1997) in den Schatten? Und wann fängt Christoph Kramer endlich mit dem Heiraten an? Lothar hat jetzt schon die Fünfte, und sie ist weitaus bekannter als Beethovens Fünfte.

Das ist Kult.