Die Italiener leiden unter Bissattacke von Uruguays Luis Suarez. Ein ganzes Land fühlt sich nach dem WM-Skandal wie vor den Kopf gestoßen oder von einer Coladose getroffen. Eine Polemik.
Natal - Von Wilhelm Busch stammt nicht nur „Max und Moritz“, sondern auch der treffliche Rat: „Bist du wütend, zähl bis vier, hilft das nichts, dann explodier.” Italien ist gleich explodiert. Nach dem, was da in Natal passiert ist, hilft kein Zählen mehr. Das ganze Land kocht nach dem WM-Aus, der Zorn will sich nicht legen, und unerträglich ist das Gefühl, von diesem uruguayischen Sauhund Luis Suarez aufs Kreuz gelegt worden zu sein. Erst beißt der Strolch dem arglosen Chiellini in die Schulter, dann schmeißt er sich schreiend hin, als hätte der Juve-Star ihn gebissen, der Schiedsrichter schläft derweil, und zwei Minuten später wird Suarez auch noch belohnt.
„Rot war das!”, flucht Giorgio Chiellini seit zwei Tagen, „eine Schande ist das!”, schimpft Trainer Cesare Prandelli, und ganz Italien möchte Suarez auf den Mond schießen oder mit der Eckfahne auspeitschen. Und was die Italiener da im Moment durchmachen, kann nur einer nachvollziehen, der sowas selbst schon erlebt hat. Zum Beispiel Zinedine Zidane.
Damals war es sogar noch schlimmer, denn es war das WM-Finale. In Berlin ist es passiert, 2006. Der Gegner hieß Italien, und die Ungerechtigkeit, die dem großen Franzosen widerfuhr, schreit noch heute zum Himmel. Zidane, der nicht nur der beste, sondern auch ungefähr der anständigste Spieler der Welt war, hat nämlich allerhand aushalten müssen, ehe er den Italiener Materazzi mit einem Kopfstoß letztendlich niederstreckte. Erst unter dem Druck von vier Lippenlesern, die im Auftrag mehrerer Zeitungen unabhängig voneinander die dem Delikt vorausgegangenen Mundbewegungen Materazzis analysierten, ist der Provokateur später zusammengebrochen und hat halbwegs zugegeben, dass er den Franzosen bis aufs Blut gereizt und in die Weißglut getrieben hat, beispielsweise in Form eines „Figlio di una puttana terrorista!”. Hurensohn ist keine schlechte Übersetzung.
Jedenfalls waren Zidanes Gefühle nach seinem damaligen Platzverweis etwa so fürchterlich wie jetzt die von Chiellini, der sich außerdem voller Verzweiflung fragt: „Warum hat der Schiedsrichter das alles nicht gesehen?”
Wir können uns in die Italiener reindenken
An der Stelle sind es wir Deutschen, die uns in die Italiener problemlos hineindenken können. Auch wir haben unter dem, was man im Fußballerjargon eine „Pfeife” nennt, einmal schrecklich gelitten, und zwar, Sie erraten es, gegen Italien. Noch heute steht auf einer Gedenktafel im Aztekenstadion in Mexico City: „17 junio 1970. Italia – Alemania. Juego del siglo.” Das Spiel des Jahrhunderts. Arturo Yamasaki hieß der Kerl, der uns gleich dreimal keinen Elfmeter gab, und Italien gewann 4:3 nach Verlängerung und zog statt uns ins WM-Finale ein.
Rotz und Wasser haben wir geheult und wurden später wenigstens ein bisschen getröstet durch den TV-Spot, den der grandiose Olli („Dittsche”) Dittrich für eine Elektronikfirma drehte. Dittsche verkörperte darin den italienischen Toni, wie der anständige Fußballdeutsche ihn sich vorstellt, Goldkettchen, Sonnenbrille, einen Eimer Gel im Haar und immer einen cleveren Spruch auf den Lippen, und Toni lachte uns Deutsche dafür aus, dass wir uns für den Fußball Flachbildschirme kaufen. „Was kaufen die Italiener?”, grinste Toni. „Sie kaufen die Schiedsrichter.” Im Weggehen sagte er: „Kleiner Scherz.”
Also wenn einer weiß, wie beschissen die Italiener sich dieser Tage fühlen, dann wir, und vor allem Günter Netzer hält Chiellini in Gedanken die Hand, wenn der jetzt in seiner verblüfften Empörung sagt: „Und simuliert hat Suarez auch noch.” Das ist das Brutalste, diese Schauspielerei. Man möchte zum Himmel schreien: Herrgott, tu was dagegen!
O ja, Netzer weiß, was Chiellini meint, spätestens seit jener legendären und traurigtollen Europacupnacht anno 71, in der er sich als „King vom Bökelberg” die Krone aufsetzte und das Spiel seines Lebens machte. Die Gladbacher schossen, Sie erraten es schon wieder, die Italiener vom amtierenden Weltpokalsieger Inter Mailand mit 7:1 aus den Schuhen – nur ein Ausfall des Flutlichts hätte Inter retten können.
Oder der Wurf einer Cola-Dose.
Der Lagerarbeiter Manfred K. soll sie abgefeuert haben, an den Kopf von Roberto Boninsegna, bei einem Einwurf. Andere schwören, die Büchse habe nur Robertos Rücken gestreift. Die Dose war auf jeden Fall leer, aber die Wirkung erstaunlich: Wie von der Axt getroffen fiel Boninsegna um. Sieben Minuten lag er regungslos da, so dass ein Priester für die letzte Ölung unumgänglich schien. „Es gab”, meinte später der holländische Schiedsrichter Jef Dorpmans, „eine Menge Italiener damals in den Uefa-Gremien.” Jedenfalls wurde das 7:1 am grünen Tisch annulliert. Da kommen die unerträglichen Gefühle der Wut auf, die nun die Italiener in Worte zu fassen versuchen. Ein ganzes Land fühlt sich vor den Kopf gestoßen oder von einer leeren Coladose am Rücken getroffen.