Einen Traumjob aufgeben? Ganz schön knifflig. Fragen Sie Joachim Löw oder Oliver Bierhoff. Höchste Zeit, dass da mal jemand erklärt, wofür der Bundestrainer Verantwortung zu tragen hat – meint unser Kolumnist Oskar Beck.

Freiburg - Es wird höchste Zeit, dass uns mal einer erklärt, was Verantwortung ist. Im Moment stochern wir diesbezüglich noch mit der Stange im Nebel und müssen uns auf den zweifelhaften Wandspruch verlassen: Eine Frau mit 40 ist verantwortlich für ihre Figur, eine Frau mit 50 für ihr Gesicht.

 

Aber wofür ist Jogi Löw verantwortlich?

Der Bundestrainer macht weiter, einfach so. Schweißgebadet wachen viele deutsche Fußballfans jeden Morgen auf und können es nicht fassen. Denn sie haben noch dieses trostlose Bild vor Augen, wie Löw in der Stunde null, nach dem 0:2 gegen Südkorea, die Stimme zum Schwur erhob: „Ich habe die Verantwortung und stehe auch dazu.“

Wozu steht er? Was meint er? Irgendwann, vielleicht im September, will er es uns erklären. Oder auch nicht, vielleicht wächst ja Gras drüber, und es fragt dann gar keiner mehr. Die Margot Käßmann des deutschen Fußballs ist Löw jedenfalls nicht. Nur wegen einer Alkoholfahrt hätte Jogi, wäre er Landesbischöfin und evangelische Ratsvorsitzende, den Bettel nicht hingeschmissen, auch nicht mit dem demütigen Satz: „Du kannst nie tiefer fallen als in Gottes Hand.“

„Wir haben den Job nicht erledigt“

Der moderne Promi, Politiker, Wirtschaftsboss oder Trainerstar tickt nicht wie eine Pastorentochter oder wie Bruce Arena. Als der als US-Nationaltrainer die Fußball-WM in Russland verpasste, trat er nach dem letzten Qualifikationsspiel auf der Stelle mit den Worten zurück: „Wir haben den Job nicht erledigt.“ Löw auch nicht. Zu verantworten hat er vielmehr eine blutleere Mannschaft leidenschaftsloser Hochkaräter und eine streckenweise haarsträubende Taktik, und für solche Fälle hat Sylvester Stallone in „Rocky IV“ (1985) eigentlich gesagt: „Du hast zu tun, was du zu tun hast.“

Löw tut das Gegenteil. Und das ohne Rücksicht auf den großen Hemingway („Wem die Stunde schlägt“), der am Beispiel zweier Legenden des Baseballs einst beschrieben hat, wann es genug ist: „Joe DiMaggio hat seine Rekorde in die Annalen eingetragen, ebenso Ted Williams – und dann, an einem besonders guten Tag, als die guten Tage rarer zu werden begannen, haben sie ihre Schuhe an den Nagel gehängt. So hat ein Meister abzutreten.“ Löw dagegen nutzte jetzt einen besonders schlechten Tag, um nicht abzutreten.

Ein Rücktritt ist heutzutage nicht mehr sexy. Sport ist nicht mehr nur Sport, es ist Zirkus und Geschäft, und es ist wie bei den Topmanagern in der Wirtschaft: Man muss sie in der Krise in Handschellen abführen, denn freiwillig gibt seinen hoch dotierten Traumjob ja keiner mehr auf, man würde so einem sofort die Gehirnrinde abtasten und ihn entmündigen.

Gibt es überhaupt ein Leben nach dem Rücktritt?

Wie groß die Verlustangst sein kann auf dem Markt der Eitelkeiten, des Mammons und der Macht, war am Beispiel des früheren Weltfußballbosses Sepp Blatter gut zu besichtigen. Vom Hof wollten ihn alle jagen, wegen der ständigen Korruptionsdebatten, doch Blatter zuckte nur kurz, wenn ein Stadion brüllte: „Blatter raus!“ Raus? Wohin? Was wartet da draußen? Gibt es überhaupt ein Leben nach dem Rücktritt – oder hat man als Abgedankter nur die Qual der Wahl, ob man die Zeit totschlägt mit einer Kreuzfahrt nach Honolulu, dem Gassiführen seines Dackels, einem Auftritt im TV-Dschungelcamp oder indem man als Stargast bei Firmenjubiläen auf die Torwand schießt? Mit Glitter und Glamour ist es jedenfalls rasch vorbei. Selbst die naheliegendsten Rücktritte werden oft im Keim erstickt.

Man muss nur an jenen früheren Regierenden Bürgermeister von Berlin denken, der lange und eisern im Amt ausharrte, um womöglich in ferneren Zeiten doch noch mit Pauken und Trompeten seinen Flugplatz eröffnen zu können. Ein Rücktritt hat keinen Charme mehr, der letzte, der es gewagt hat, war Benedikt XVI. Aber Löw hat natürlich recht, wenn er sagt: Ich bin nicht der Papst.

Mit einer gut überlegten Begründung für sein Weitermachen hat er sich zitieren lassen. Reinhard Grindel, der DFB-Boss, hatte ihm ja noch vor der WM den Vertrag verlängert, bis 2022, ohne Not, keiner weiß, warum – aber jedenfalls sagt Löw jetzt ungefähr: Ich habe dem Präsidenten mein Wort gegeben, das kann ich nicht brechen. Opfert sich Löw als Wohltäter fürs Vaterland auf – oder denkt er doch eher an sich und seinen Traumjob, hart an der Grenze zur Wellnessoase? Nur ein paar Spiele muss er jedes Jahr machen, und die besten Kicker laufen ihm zu, scharenweise – es ist wie in den glorreichen 70ern des FC Bayern, als Franz Beckenbauer zum bekannten Kolumnisten Horst Vetten sagte: „Erzählen Sie es nicht weiter, aber auch mit Ihnen als Trainer würden wir Meister werden.“ Löw ist ein Glückspilz. Wollte er in der Stunde der Schmach wirklich die Verantwortung übernehmen?

„Ich muss nachdenken“

Vielleicht, aber dann nur ganz kurz. „Ich muss nachdenken“, hat er gesagt, als er nach dem schweren K. o. groggy in den Seilen hing. „Ich muss nachdenken“, hat auch der späte Muhammad Ali immer gesagt und kurz überlegt, ob sein bald 40-jähriges Kinn und sein gleichaltriges Hirn noch eine weitere Prügelei überstehen. Dann hat einer mit den Schecks gewedelt, und Ali ließ sich für ein paar weitere Millionen weiter verdreschen. Sogar die eigene Gesundheit hat er verantwortungslos ruiniert – wenn die Kasse stimmt, kann die Verantwortung einpacken.

Glauben wir besser nur jedes zweite Wort, wenn alternde Boxer, fragwürdige Politiker, überbezahlte Topmanager oder groggy geschlagene Fußballtrainer mit Hinweis auf ihre tief sitzende Verantwortung ihr Amt nicht aufgeben wollen und uns mittels Worthülsen und Sprechblasen schwören, dass sie alles, was falsch war, künftig richtig und anders machen. „Knallhart“ will der DFB-Direktor Oliver Bierhoff den WM-Flop von Russland aufarbeiten, aber in dem Fall müsste er schlimmstenfalls nicht nur Löw, sondern auch sich selbst entlassen – gehen wir also getrost davon aus, dass die zwei, falls sie tatsächlich eines fernen Tages knallhart bei Kaffee und Kuchen zusammensitzen, sich am Ende butterweich und auf dem Gnadenweg gegenseitig alle Sünden erlassen.

Was ist Verantwortung? Keiner sagt es uns, außer Margot Käßmann, Hemingway, Rocky und Götz George. Der ist als „Tatort“-Kommissar Schimanski sein halbes Leben lang jedem Strolch über die Theke hinweg an den Kragen gehechtet, und als ihn dann mal ein Reporter fragte, wann Schluss ist, sagte er: „Wenn ich den Sprung über den Stuhl nicht mehr schaffe.“

Jogi Löw lässt sich von Oliver Bierhoff eher einen kleineren Stuhl hinstellen.