Ein 37-jähriger Aussteiger aus Hessen soll die Führungsriege des türkischen Boxklubs belasten. Stattdessen entlastet er im Prozess um die Osmanen Germania den Vizepräsidenten.

Stuttgart - Mit einem schwarzen Mercedes rollt der 37-jährige vor das Polizeirevier in Stadtallendorf in Hessen, seine Frau sitzt am Steuer. Er lässt das Fenster herunter und spricht einen Polizisten an: „Kennst du mich noch?“ Daraufhin erzählt der Mann eine wilde Räuberpistole: Er sei der Präsident des wichtigsten Osmanen-Chapters in Mittelhessen, wolle alsbald von den Hells Angels das Rotlichtmilieu übernehmen und habe brisante Informationen über die türkische Straßenbande, die seit dem Jahr 2016 vor allem in Ludwigsburg und Stuttgart für Angst und Schrecken sorgt.

 

So schildert ein Polizeikommissar die erste Begegnung mit Celal Sakarya, den selbst der stets sachlich auftretende Richter Joachim Holzhausen im Osmanen-Prozess am Stuttgarter Landgericht als „schillernd“ bezeichnet. Das Problem: Sakarya hat früher andere Versionen erzählt. Doch genau dieser Celal Sakarya ist Kronzeuge und Opfer im wichtigsten Anklagepunkt des Verfahrens, der tagelangen Folterorgie in einer Wohnung in Herrenberg (Kreis Böblingen).

Ständig neue Versionen der Wahrheit

Sakarya war, das zumindest ist sicher, Präsident des Ortsklubs Gießen-Marburg. Er soll sich mit der Führungsriege des nationaltürkischen Boxklubs überworfen haben – und dafür als Vergeltung mit einer Rohrzange geschlagen, getreten, ins Bein geschossen und ohne Betäubung operiert worden sein.

Zunächst hat Celal Sakarya den Vizepräsidenten der Osmanen, Selcuk Can Sahin, als Verantwortlichen dafür benannt. Das war unmittelbar nach der Tat am 3. Februar 2017. Seither allerdings hat Sakarya ungefähr fünf verschiedene Versionen aufgetischt, wie es zu seinen schweren Verletzungen gekommen ist – die sich ausschließen. Und das ist ein Problem für die Staatsanwaltschaft, zumal der Zeuge einer weiteren Abstrafungsaktion im Kreis Esslingen bereits seine belastende Aussage entscheidend relativiert hat.

So hat das Gericht Mühe, den Erzählungen des 37-Jährigen zu folgen. Unmittelbar nach der Tat erzählte Sakarya in seiner Heimatstadt Stadtallendorf bei Marburg zunächst, er sei in der Nähe des Polizeireviers angeschossen worden – so berichten es die Beamten, die er angesprochen hatte. Dann hieß es, kurdische Bandenmitglieder hätten ihn unweit des Osmanen-Klubheims malträtiert. Eine weitere Variante: Maskierte Männer hätten ihn an einer Tankstelle überfallen, als er dort nachts eingeschlafen sei.

Sichtbare Heiterkeit bei den Verteidigern

Ein langjähriger Polizeikommissar, der Celal Sakarya seit dessen Jugend kennt, sagt vor Gericht immer wieder: „Ich habe erhebliche Zweifel an seinen Schilderungen.“ Erst nach und nach nähert der 37-Jährige sich der Erzählung an, die sich auch mit Bewegungsprofilen, Handydaten und anderen Zeugenaussagen deckt: Dass er in Herrenberg in der Wohnung des Stuttgarter Osmanenchefs Levent Uzundal im Schlaf angegriffen und dann gefoltert worden sein soll.

Auch sonst gibt der 37-jährige viel Anlass zum Kopfschütteln. So wurde er schon früher wegen einer Überfallserie auf Spielotheken verurteilt – später soll er, so wird es berichtet, auf eigene Faust versucht haben, einen Serienbrandstifter zu ermitteln. „Er hat nur schwer eingesehen, dass das nicht seine Aufgabe ist“, erzählt der 62-jährige Polizeikommissar, der so etwas wie ein Vaterfigur für Sakarya ist und bis heute mit ihm per WhatsApp chattet.

Sakaryas Wankelmütigkeit sorgt für Gericht immer wieder für Heiterkeit und sichtbare Freude bei den Verteidigern. Zumal er in einem zentralen Punkt seine Aussage korrigiert: Nicht Osmanenvize Selcuk Sahin sei verantwortlich, sondern nur der Stuttgarter Präsident Levent Uzundal. „Er hat sich das alles ausgedacht“, beteuert er.

Zwei Fraktionen: Bacgi/Sahin gegen Uzundal

Schon im Februar 2017 hat er dies in einem juristisch perfekt formulierten Schreiben unterstrichen – das nach Ansicht des Gerichts kaum von ihm stammen kann. Auch aus einem vor Gericht verlesenen Chatprotokoll geht hervor, dass er Kontakt zum Frankfurter Anwalt Julian Heiss hatte, der Sahin verteidigt. Heiss sammelt in den Verhandlungspausen oft die Verteidiger von Osmanenpräsident Mehmet Bagci und weitere Mitstreiter um sich – offenbar spricht man sich ab.

Dies sorgt sichtbar für Irritationen bei den Verteidigern der Stuttgarter Osmanen wie Levent Uzundal, die sich von der Wendung überrascht zeigen. Wenn sich der Eindruck in den weiteren Verhandlungstagen verstärkt, könnte Uzundal eine hohe Haftstrafe drohen, während die restliche Führungsriege glimpflich davon kommt. Die Uzundal-Fraktion kann nur darauf hoffen, dass auch diese Kehrtwende von Sakaryas unglaubwürdig ist. Es spricht jedenfalls viel dafür, dass der 37-jährige Kronzeuge der Anklage von den Osmanen umworben wird. Handyprotokolle zeigen bis zur Gegenwart rege Kontakte, etwa mit dem ehemaligen Stuttgarter Vizepräsidenten Mustafa Kilinc, der zunächst in der Türkei untergetaucht sein soll. Inzwischen ist Kilinc in der Schweiz – wie ein Whats-App-Protokoll beweist. Er gilt als Schlüsselfigur für Kontakte in die Türkei, seit Bagci und Sahin in Haft sind.

Die Nähe von Celal Sakarya zu den Osmanen zeigt ein Detail. Im Zeugenstand trägt der 37-Jährige ein T-Shirt mit den Zahlen 1453 – das Datum der Eroberung Konstantinopels, eine im Klub gerne verwendete Chiffre. Seine Erklärung dafür: „Ach, dieses T-Shirt hat mir mein Sohn geschenkt.“

Dubiose Kontakte in die Schweiz