Wie geht es mit der Kulturmeile weiter? Sollte es einen Steg oder einen Überweg an der Konrad-Adenauer-Straße geben? Der Architekt Roland Ostertag plädiert in diesem Gastbeitrag dafür, nicht nur das Einzelprojekt zu sehen, sondern die gesamte Innenstadt in den Blick zu nehmen.

Stuttgart - In dem Gesamtkonzept „Der Stadtboden gehört allen, Gedanken zur städtebaulichen Entwicklung“ haben wir unsere Vorstellungen für die Bereiche zwischen Wilhelmsplatz und Neckartor vom Wilhelmsplatz über die Tor- bis zur Fritz-Elsas-Straße formuliert.

 

Grundsätze

Die räumlich-soziale Verflechtung der gesamten Stuttgarter Innenstadt, vor allem die historische Ost-West-Ausdehnung von der Olgastraße bis zum Hegelplatz, muss wiederhergestellt werden. Sämtliche Funktionen der städtischen Mobilität einschließlich des Fußgänger-, Automobil-, Radfahrer- und Schienenverkehrs müssen niveaugleich auf einer Ebene mit dem „Stadtboden“ und in qualitätvoller, urbaner Verträglichkeit integriert werden.

Es sollten keine verkehrstechnischen Ausbaumaßnahmen umgesetzt werden, die zu einer weiteren Festschreibung oder Aufwertung der bestehenden problematischen Verkehrs- und Netzstrukturen in der Innenstadt führen – beispielsweise durch eine Untertunnelung der sogenannten Kulturmeile. Die zerstörten historischen Raumfolgen von Platz- und Straßenräumen müssen so weit wie möglich wiederhergestellt und neue hinzugefügt werden.

Rückblick

Das Grundgesetz der Stadt Stuttgart wurde bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts empfindlich beschädigt. Die Kriegszerstörungen sowie die rücksichtslose, unsensible, das Gedächtnis, die Erinnerungslandschaft, die topografischen Gegebenheiten und die landschaftlichen Schönheiten missachtende Verkehrsplanung verwischen die Grundstruktur, die über Jahrhunderte gewachsene „rhythmische Gliederung“ (Heinz Wetzel) des Stadtkörpers immer mehr.

Und auch heute noch verstößt man weiter gegen unverzichtbare Werte und Tabus des verbindlichen Grundgesetzes der Stadt mit der Bebauung A 1 hinter dem Hauptbahnhof, dem Projekt Stuttgart 21, der Untertunnelung „Kulturmeile“, der Bebauung Willy-Brandt-Straße, der Partymeile Theodor-Heuss-Straße und der Bebauung Marienplatz. Eine Stadt kann viel aushalten, sie kann auch umkippen.

Fehler

Betrachten wir den Bereich vom Wilhelmsplatz über die Tor- bis zur Fritz-Elsas-Straße, den durch die ausschließlich an Gesichtspunkten des Individualverkehrs orientierte „Stadtplanung“ der vergangenen Jahrzehnte am empfindlichsten zerstörten Stadtteil. Viele Fehler wurden gemacht:

1. der Durchbruch als Querspange vom Wilhelmsplatz/Hauptstätter Straße bis zur Schlossstraße und die damit verbundene maßlose Aufweitung der Straßenräume in der Tor-, der südlichen Eberhard-, der König- und der ehemaligen Fritz-Elsas-Straße

2. die Zerstörung der über Jahrhunderte gewachsenen Raumfolgen und die Missachtung des Stadtgrundrisses mit dem stadtprägenden Oval der Altstadt

3. die Zerstörung der Innenstadt und der über Jahrhunderte gewachsenen Beziehungen zwischen der Innenstadt und den benachbarten Stadtquartieren wie Leonhards-, Gerber- und Hospitalviertel.

4. Man erkannte in den 1980er/90er Jahren zwar die trennende Wirkung des Verkehrs im Abschnitt zwischen der Hauptstätter Straße und dem Rotebühlplatz und verlagerte den Querspangen-Verkehr auf die Paulinenstraße, die dadurch jedoch in ihren erheblichen Nachteilen verstärkt wurde. Die Möglichkeit, wenigstens diesen weitgehend verkehrsfreien Abschnitt räumlich annehmbar und fußgängerfreundlich zu gestalten, wurde jedoch verpasst. So entstand seit Jahrzehnten eine fußgängerfeindliche, die Beziehung zwischen Innenstadt/Königstraße und Bereich Tübinger/Marienstraße weiterhin unterbrechende und trostlose Zwischenzone.

Vorschläge

Es gilt, die Chancen sind gegeben, die Sünden der „Stadtplanung“ der vergangenen Jahrzehnte wenigstens teilweise zu beheben. Deshalb schlagen wir vor, dem Grundgesetz der Stadt zu folgen, und den historischen Stadtgrundriss mit dem Oval der Altstadt in diesem Bereich wieder erlebbar zu machen. Dazu wären diese Maßnahmen erforderlich:

1. eine vier- bis fünfgeschossige Bebauung der aufgeweiteten Flächen zwischen Königstraße und Rotebühlplatz

2. eine Reduzierung der Straßenführung von der Heilmannstraße (Neckartor) bis zum Marienplatz auf jeweils zwei Spuren ohne Parkierung in beide Richtungen und mit kreuzungsfreien Querverbindungen

3. eine zwei- bis dreigeschossige Bebauung der aufgeweiteten Torstraße, die räumliche – nicht nur postalische – Fortsetzung der Königstraße bis zur Tübinger Straße, gegliedert durch geometrisch straffe Anordnung von drei Baumreihen mit städtischen Merkmalen in Anlehnung an eine über Jahrhunderte bis zur Zerstörung im Krieg hier befindliche Allee ähnlicher Konfiguration.

4. Ablesbare Platzräume am Zusammentreffen von König-, Marien- und Rotebühlstraße (Königsplatz) und am Übergang von Eberhard- und Torstraße vor dem Hegelhaus (Hegelplatz) könnten die neu gewonnenen Räume aufwerten. Es muss kein Traum sein, eine interessante und überraschende Raumfolge zu schaffen, die vom Wilhelmsplatz über den Torplatz und die beiden erwähnten Plätze (Hegel- und Königsplatz) zum deutlich definierten Rotebühlplatz und von dort über die wesentlich reduzierte Fritz-Elsas-Straße zum Berliner Platz führt.

5. Der kontinuierliche Zusammenhang zwischen Innenstadt/Altstadt und dem südlich anschließenden Bereich Marien-/Tübinger Straße durch Widmung des Abschnitts zwischen nur rechts abbiegender Tübinger Straße und Kronprinzstraße zur Fußgängerzone verlangt auch eine neue Steuerung des Individualverkehrs, der ohne Zweifel erheblich zu reduzieren ist.

Die Erschließung sämtlicher Tiefgaragen im Altstadt-/Innenstadt-Bereich sollte nur von den tangierenden Theodor-Heuss-, Hauptstätter, Schloss- und Fritz-Elsas-Straße sowie der teilweise unterirdisch geführten Planie erfolgen. Die so nicht erschließbaren Hoch- und Tiefgaragen sollten geschlossen werden. Aufgegeben werden sollte auch die dezentrale Stichstraßenerschließung großer Teile der Innenstadt, oberirdische Parkierungsmöglichkeiten sollten vermieden werden.

Diese Vorschläge entlasten die Innenstadt nicht nur von störendem Suchverkehr. Obendrein wird die Stadt durch die vorgeschlagene Neubebauung auf Grundstücken, die sich weitestgehend schon in städtischem Eigentum befinden, circa 25 000 Quadratmeter Bruttogeschossfläche gewinnen. Sie sollten überwiegend der Wohnnutzung (etwa 300 Wohnungen) zugeführt werden.

Fazit

Einzelmaßnahmen sind der endgültige Tod der Stuttgarter Stadtplanung. Nur ein Bündel verschiedener Maßnahmen hilft in dieser verfahrenen Situation der Stadt wirklich weiter. Der Rückbau der teils 20-spurigen Stadtautobahn ist dringend geboten, nur darf er keine Einzelmaßnahme sein. Die vorgeschlagenen Maßnahmen sind eine zukunftweisende, zukunftsfähige, realistische und stufenweise realisierbare Perspektive für diesen inneren Stadtbereich. Die Stadt und ihre Bewohner gewinnen an Lebensraum und an Lebensqualität. Eingefahrene und verfahrene Denkschablonen und veraltete, überholte und jüngst wiederbelebte Konzepte zu verlassen (S 21 ausklammernd) ist eine Herausforderung, für manche Personen ist es auch eine Zumutung. Wir erwarten aber endlich eine kritische, eine sachliche und eine zukunftsorientierte Diskussion.

Roland Ostertag, 1931 in Ludwigsburg geboren, beginnt 1951 das Studium der Architektur an der Technischen Hochschule Stuttgart, wo er später auch arbeitet. Von 1957 an ist er freiberuflich tätig, von 1979 bis 1998 Dozent für Gebäudelehre und Entwerfen an der Technischen Universität Braunschweig. Außerdem bekleidet er von 1993 bis 1996 das Amt des Präsidenten der Bundesarchitektenkammer. Bis heute betätigt sich Ostertag als ebenso sachkundiger wie streitbarer Impulsgeber in Sachen Stadtplanung. Er setzt sich für den Erhalt denkmalgeschützter Bauten ein und hat sich klar gegen S 21 positioniert.