Viele Bulgaren und Moldawier suchen Arbeit in der Fremde – zurück bleiben Kinder und Alte. Ein Familienzentrum in Sofia hilft mit Notunterkünften, Essen, Bildung und medizinischer Hilfe.

Sofia - Wenn Natascha mit ihren Kindern in einen Bus steigt, ziehen andere Passagiere oft ihre Taschen näher zu sich. „Viele haben Angst vor uns“, sagt die 28-jährige Roma. In Bulgarien, dem ärmsten Land in der Europäischen Union, ist die Lage für einen Großteil der sieben Millionen Einwohner schwierig – erst recht aber für die Roma-Minderheit, die am Rand der Gesellschaft lebt. Sie haben häufig viele Kinder und selten eine feste Arbeit, leben überwiegend in heruntergekommenen Vierteln und ohne medizinische Versorgung.

 

Natascha hofft darauf, dass es ihre fünf Kinder einmal besser haben werden als sie selbst. Sie hat keine Ausbildung gemacht und kämpft tagtäglich dafür, ihre Familie einigermaßen satt zu bekommen. Morgens fährt sie mit ihren drei Ältesten eine halbe Stunde in Richtung Innenstadt, zum Familienzentrum St. Konstantin, und kehrt dann nach Hause zurück, damit ihr Mann zur Arbeit gehen kann. Nach dem Frühstück im Familienzentrum, einer umgebauten Mühle, gehen die drei in die Schule. Auch das Mittagessen bekommen sie im Zentrum und Hilfe bei den Hausaufgaben. Bevor ihre Mutter sie abends abholt, bleibt Zeit zum Spielen oder Kicken. Dieses Angebot sei gut für ihre Kinder, sagt Natascha. Sie träumt davon, dass die fünf eines Tages Arzt, Rechtsanwalt, Friseurin, Zahnärztin und Lehrerin werden.

Das kann ihr Dilyana Gyurova nicht versprechen. Unermüdlich setzen sich die Leiterin von Concordia Bulgarien und ihre Mitarbeiter dafür ein, dass arme Kinder überhaupt eine Chance erhalten. Vor fast zehn Jahren eröffnete die internationale Stiftung mit einheimischen Sozialarbeitern und Erzieherinnen das erste Zentrum in Bulgarien. Es ist ein Auffangbecken für viele Kinder und Jugendliche, manche sind auf sich allein gestellt.

Qualifizierte Arbeitskräfte sind im Westen sehr gefragt

Die Sozialeinrichtung ist eine von vielen in Osteuropa. Auch in Rumänien und Moldawien müssen immer häufiger Minderjährige ohne ihre Eltern auskommen, weil diese mit der Erziehung überfordert oder auch zum Arbeiten in den Westen abgewandert sind. Seit dem EU-Beitritt von Bulgarien und Rumänien 2007 sind die Grenzen offen – auch für einen Großteil der Moldawier, die meist Anspruch auf einen rumänischen Pass haben. Ärzte und Pflegekräfte, Ingenieure und Computerexperten sind überall gefragt. Begehrt sind auch Arbeitskräfte auf Baustellen, in Schlachthäusern und Privathaushalten, die für wenig Geld arbeiten. Wie viele ins Ausland gegangen sind, weiß keine Behörde – oder gibt offiziell keine Auskunft darüber.

Ihre Geldüberweisungen in die Heimat helfen nur auf den ersten Blick den Familien und den Ländern. Tatsächlich leiden beide Seiten, sagt Otilia Sirbu, die Leiterin von Concordia Moldawien. Städte und Dörfer verfallen zunehmend. Diejenigen, die Verantwortung übernehmen und anpacken müssten, gehen, zurück bleiben meistens Kinder, Kranke und Alte. Um viele dieser Zurückgebliebenen kümmern sich Concordia-Mitarbeiter, die durch Spenden finanziert werden – auch von Unternehmen, die in diesen Ländern tätig sind. Insgesamt profitieren von Notunterkünften und Suppenküchen, Familienberatung und medizinischer Hilfe etwa 9400 Menschen.

Im Familienzentrum in Sofia bleiben Mädchen und Jungen tagsüber oder auch während der ganzen Woche, weil sich ihre Eltern nicht um sie kümmern können, manchmal auch nicht wollen. Ein Vater habe seinen Sohn einfach nicht mehr abgeholt, erzählt Gyurova. Für den Jungen und drei andere ist derzeit das Zentrum ihr Zuhause, weil sie kein anderes mehr haben. Solche Geschichten gibt es viele in Bulgarien. Als das Land vor zehn Jahren in die EU aufgenommen wurde, hofften viele, dass sich ihr Leben verbessern würde. Doch auch heute lebt fast die Hälfte der Bevölkerung in Armut. Von den EU-Geldern, die für Sozialprogramme und den Abbau der Diskriminierung an das Land gezahlt wurden, kam nur ein kleiner Teil bei den Bedürftigen an.

Familiäre Atmosphäre

Ohne finanzielle und personelle Unterstützung aus dem Ausland wären auch die Kinder aus dem Familienzentrum am Rand von Sofia um vieles ärmer. Im Wohnzimmer wird gemalt, gespielt, jongliert, einige Jungen laufen vor dem Haus um die Wette. Auch sie zählen zu den Verlassenen. Die familiäre Atmosphäre und die Fürsorge der Betreuerinnen helfen ihnen dabei, ihre traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten, sagt Markus Inama, der bei seiner Ankunft sofort von den Kindern umringt wird. Alle paar Wochen kehrt der Jesuitenpater aus Österreich nach Sofia zurück, wo er vor fast zehn Jahren mit bulgarischen Mitarbeitern begonnen hat, das private Helfernetz aufzubauen. „Wir wollen, dass die Kinder möglichst unbeschwert heranwachsen können“, erzählt Inama.

Dabei setzen die Helfer auf die Familien. Eltern und Kinder sollen gestärkt, eine Trennung möglichst vermieden werden. Wenn beide Eltern verstorben sind oder eine Rückkehr in die Familie ausgeschlossen ist, geben die Behörden die Kinder auch zur Adoption frei. Die achtjärige Albena freut sich gerade darauf, dass sie bald von einer italienischen Familie aufgenommen wird. „Unsere Kinder haben große Sehnsucht nach einer intakten Welt“, sagt eine Erzieherin. Sie kommen aus Familien, die an Alkohol oder Drogen zerbrochen sind, ihre Bedürfnisse wurden oft übergangen, viele haben Gewalt erfahren. Damit die Kinder stark und unabhängig werden, brauchen sie Bildung, sagt Pater Inama.

Schulpflicht oft nur auf dem Papier

Selbstverständlich gibt es in Bulgarien eine Schulpflicht. Aber vor allem Roma-Kinder fehlen häufig im Unterricht. Und der Staat tue zu wenig, um das zu ändern, kritisiert Inama. Über die Gründe gehen die Meinungen auseinander: Manche Eltern halten die Schule für überflüssig oder klagen, dass sie sich Bücher, Hefte und Stifte nicht leisten könnten. Andererseits müssen die Mitarbeiter in den Familienzentren viel Überzeugungsarbeit leisten, damit die Schulen ihre Kinder überhaupt aufnehmen. Junge Roma schadeten ihrem Ruf, bekommen sie regelmäßig zu hören.

Ein Teufelskreis, der durchbrochen werden muss. Die Kinder profitieren davon. Einige ihrer Schützlinge haben Ausbildungen abgeschlossen, einer hat sich als Friseur selbstständig gemacht, berichtet Dilyana Gyurova. In der kleinen Kapelle erinnern Fotos aber auch an diejenigen, die keine Zukunft hatten: Kinder und Jugendliche, die an Drogen, Alkohol oder Krebs gestorben sind.

Statt Arbeitsplatz Zwangsprostitution

600 Kilometer nordöstlich, in einem Dorf in Moldawien, lebt Anastasia. Auch die 87-Jährige ist auf fremde Hilfe angewiesen. Seitdem sie ihren Fuß verbrüht hat, kann sie kaum noch den Zehn-Quadratmeter-Raum verlassen, der zugleich Küche und Bad, Wohnstube und Schlafzimmer ist. Die Stiftung sorgt dafür, dass sie mit Essen und Medikamenten versorgt wird. Ein Gemeindemitarbeiter bringt ihr und anderen Bedürftigen im Ort die Lebensmittelpakete vorbei. Die meisten Jüngeren sind gen Westen oder Russland gezogen.

Doch nicht alle Auswanderer finden in der Ferne ihr Glück. Frauen, denen eine Stelle als Kellnerin oder Kindermädchen versprochen wurde, landen in der Zwangsprostitution. Selbst diejenigen, die für westliche Arbeitgeber wenig zu bieten haben, sind für die Schlepper attraktiv – etwa als Bettler. Das Geld kommt selten ihnen und ihren Familien zugute, denn die Kassierer sind rechtzeitig zur Stelle, um die Kosten für Reise und Unterkunft sowie Zinsen einzutreiben.

Dass sich die Lage in absehbarer Zeit ändert, glauben die wenigsten, denn die Korruption verhindert jeglichen Fortschritt. Viele Politiker erinnern sich nur vor den Wahlen an die Schwächsten in der Gesellschaft und zeigen sich kurzfristig spendabel. Der Kandidat, dem sie bei der letzten Wahl ihre Stimme gab, habe seine Versprechen nicht gehalten, sagt Natascha. Auch nach der Parlamentswahl an diesem Sonntag in Bulgarien dürfte es nicht besser werden. „Seit 1990 werden uns bei jeder Wahl Reformen versprochen“, sagt Gyurova. „Das Wort kann keiner mehr hören.“