Der durch das Arzneimittel Contergan schwer geschädigte Christian Stürmer setzt sich seit vielen Jahren für die Belange seiner Leidensgenossen ein. Der Vorsitzende des Contergan-Netzwerks wird dafür mit dem Landesverdienstorden geehrt.

Ostfildern - Christian Stürmer hat in seinem Leben zu kämpfen gelernt. Er kam im Jahr 1961 mit schweren Conterganschäden an den Beinen zur Welt und weiß, was es bedeutet, sich Tag für Tag als Mensch mit Behinderung zu behaupten und seinen Weg zu finden. Doch der heute 55-Jährige, in Ostfildern-Ruit lebende Jurist kämpft nicht nur für sich, sondern für alle rund 2600 noch lebenden Opfer des Contergan-Arzneimittelskandals. Er hat als Bundesvorsitzender des Contergan-Netzwerks maßgeblich dazu beigetragen, dass die Conterganopfer nach mehr als 50 Jahren der Unterversorgung seit gut vier Jahren eine gerechte Entschädigung erhalten. Für sein Engagement wird Christian Stürmer an diesem Samstag im Schloss Mannheim der Verdienstorden des Landes Baden-Württemberg verliehen.

 

Nächtelang Akten gewälzt

Während seines Jurastudiums sei er immer wieder von Leidensgenossen kontaktiert worden und habe „den enormen Druck in der Szene gespürt“. Den Druck, trotz der Schädigung ein selbstbestimmtes Leben ohne finanzielle und versorgerische Notlagen zu führen. Daran, dass dies nicht möglich gewesen sei, trage der Staat eine „exorbitante Mitschuld“. Denn er hat sich laut Stürmer unter anderem „schützend vor die Pharmaindustrie gestellt“. Dann seien die Opfer nach dem Skandal „bitterbös enteignet und mit einem Butterbrot zu den Sozialkassen geschickt“ worden.

Stürmer, der als Jurist für eine belgische Firma arbeitet, wollte diese Ungerechtigkeit nicht mehr hinnehmen. Er arbeitete sich in die historisch und rechtshistorisch hochkomplexe Materie ein, wälzte „oft nächtelang Akten“ und erfuhr schließlich dank der freundschaftlichen Beziehungen zur Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), dem Sozialflügel der CDU, Unterstützung durch Politiker in immer höherrangigen Positionen – unter anderem auch durch den Esslinger Bundestagsabgeordneten Markus Grübel.

Christian Stürmer reiste zudem mehrfach mit anderen Contergan-Geschädigten nach Berlin und wurde immer und immer wieder bei Ministerien und Abgeordneten vorstellig. Unermüdlich schilderten Vertreter der vielfältigen Contergan-Behinderungsbilder ihre schwierigen, zum Teil unwürdigen Lebenssituationen – auch bei einem Besuch des damaligen stellvertretenden CDU-Fraktionsvorsitzenden und heutigen Landesinnenminister Thomas Strobl. Dieser sei von den Berichten offenbar „sehr emotionalisiert“ gewesen, berichtet Christian Stürmer. Denn unmittelbar im Anschluss an diese Gespräche habe Thomas Strobl „die erste Garde“ der Bundespolitik für dieses Thema gewonnen und damit „den Ball ins Tor geschossen“. Das bedeutete schließlich einen späten Sieg für die Conterganopfer, denn der Bundestag beschloss daraufhin im Jahr 2013 das sogenannte Conterganstiftungsänderungsgesetz. Dieses legt die Ausschüttung von insgesamt zusätzlich 120 Millionen Euro jährlich als Entschädigung fest. Mit dem Geld wurden die Renten der Betroffenen deutlich angehoben, und es werden die Kosten für spezielle Heil- und Hilfsmittel gedeckt. Damit haben Christian Stürmer und seine Mitstreiter ihr Ziel erreicht, „dass die Conterganopfer versorgt sind“. Und der Staat habe sich letztlich doch noch seiner Verpflichtung gestellt.

Stürmers Engagement geht weiter

Den Landesverdienstorden aus den Händen des Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann nehme er stellvertretend für alle in Empfang, „die ihr Herzblut in diese Sache investiert haben“, betont Stürmer. Sein Engagement für Menschen mit Behinderung ist damit aber noch lange nicht erschöpft. Als Vorsitzender des baden-württembergischen CDU-Netzwerks „Chancen für alle – Menschen mit und ohne Behinderung“ setze er sich weiter dafür ein, das Randthema Behinderung in den Mittelpunkt zu rücken. Schließlich seien zehn Prozent der Bevölkerung im Land zu mehr als 50 Prozent behindert. Mit deren Angehörigen seien damit ein Drittel der Menschen in Baden-Württemberg von Behinderungen betroffen. Diesen müsse beispielsweise durch ein verschlanktes Teilhabegesetz eine „an den Menschen ausgerichtete Hilfe“ zukommen, sagt Stürmer.

Auch privat hat der 55-Jährige ein neues Projekt in Angriff genommen. Gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Nancy Roski lässt er zurzeit ein Reihenhaus im Ostfilderner Stadtteil Ruit behindertengerecht umbauen. Dabei setze er nicht auf die meist praktizierte „Reduktion“, etwa mit einer angestückelten Rampe im Eingangsbereich. Er wolle zusammen mit der Stuttgarter Gesellschaft für Bauen und Sanieren das Haus aus dem Jahr 1961 barrierefrei vom Keller bis zum Dachstuhl gestalten. Ein Aufzug werde eingebaut, die gesamte Technik elektronisch gesteuert und auf der Dachterrasse soll ein Whirlpool der Entspannung dienen. In etwa einem halben Jahr wollen Christian Stürmer und Nancy Roski einziehen. Die Stuttgarter Filmproduktionsfirma Desert Ship Studios dokumentiere den Umbau.

Doch zunächst steht für Christian Stürmer an diesem Samstag die Auszeichnung im Schloss Mannheim auf dem Programm. Übung im Auftritt großer Bühne besitzt er schon: Er war jüngst beim Neujahrsempfang des Bundespräsidenten zu Gast.

Der aufsehenerregendste Arzneimittelskandal in Deutschland

Contergan
Der bisher aufsehenerregendste Arzneimittelskandal in Deutschland wurde in den Jahren 1961 und 1962 aufgedeckt. Das Beruhigungsmedikament Contergan wurde vom Oktober 1957 bis zum November 1961 unter anderem gegen morgendliche Schwangerschaftsübelkeit verschrieben. Der in dem Medikament enthaltene Wirkstoff Thalidomid konnte jedoch Schädigungen in der Wachstumsentwicklung der Föten hervorrufen. Weltweit kamen mindestens 5000 dadurch geschädigte Kinder zur Welt. Der Zusammenhang zwischen zwischen Contergan und den Fehlbildungen wurde erst Ende 1961 erkannt. Daraufhin nahm der Hersteller, die Firma Grünenthal, das Medikament vom Markt.

Prozess
Der Prozess gegen Verantwortliche der Firma Grünenthal begann im Januar 1968. Im Dezember 1970 wurde das Verfahren unter anderem wegen „geringfügiger Schuld der Angeklagten“ eingestellt. Das wurde von den Betroffenen als Skandal und als Missachtung ihrer durch Fahrlässigkeit verschuldeten Schädigungen erachtet.

Verleihung
Der Verdienstorden des Landes Baden-Württemberg wird an diesem Samstag von 14 Uhr an im Schloss Mannheim verliehen. Insgesamt werden 22 Personen für ihr vielfältiges Engagement vom Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann geehrt. Neben Christian Stürmer sind bekannte Persönlichkeiten darunter wie der ehemalige Fußballprofi Cacau, der Tatort-Darsteller Richy Müller oder die Mundart-Theaterdarsteller Albin Braig und Karlheinz Hartmann, besser bekannt als „Hannes und der Bürgermeister“.