Familie/Bildung/Soziales: Lisa Welzhofer (wel)
Wie war das in Ihrer Kindheit?
Agnes B. Ich stamme aus Wieden im Schwarzwald. Wir waren sieben Kinder, zwei Brüder und ich waren von Geburt an blind. Mit sechs Jahren bin ich in eine Blinden-Klosterschule im Kreis Rottweil gekommen. Ich hatte viel Heimweh, die Nonnen waren streng, ich habe sehr gelitten. Nach neun Jahren Schule und drei Jahren Ausbildung zur Stenotypistin musste ich mit 18 raus ins Leben, ohne darauf vorbereitet gewesen zu sein. Erst als ich nach Lörrach gezogen bin und dort als Telefonistin gearbeitet habe, wurde ich selbstständiger.
Richard B. Ich kam auch fast blind zur Welt, in einem kleinen Dorf am Rhein bei Rastatt. Das war ein armes, herbes Dorf von Kleinstbäuerle. Es gab diese Hierarchie: Ganz oben kam der liebe Gott, der durfte zu allen grausam sein. Dann kamen der Pfarrer, die Männer, die Frauen, die Kinder. Ganz unten war das Vieh, das sich nicht wehren konnte.
Wo standen Sie als blindes Kind?
Richard B. Ich war begabt und deshalb bei der Dorfjugend geschätzt. Geholfen hat mir meine energische Mutter, die mich nicht geschont hat. Ich musste Holz spalten, die Ernte mit heimbringen, körperlich wirklich arbeiten. Das war wichtig und gut so. Mit 15 Jahren kam ich in die Blindenschule. Dort habe ich das Allerwichtigste für mein Leben gelernt: die Blindenschrift. Ich habe angefangen, Goethe-Balladen auswendig zu lernen und nach und nach die ganzen deutschen Dichter: von Mörike über Rilke bis Brecht.
Wie sind Sie nach Stuttgart gekommen?
Richard B. Ich habe eine Büroausbildung in der Nikolauspflege in Stuttgart gemacht und ab 1954 40 Jahre lang bei einer Privatbank gearbeitete. 1972 habe ich mir im Asemwald die Wohnung gekauft, 1989 ist Agnes eingezogen.
War das Zusammenleben eine Umstellung?
Agnes B. Nein. Wir haben vorher schon unseren Alltag geteilt, nicht nur Urlaub gemacht.
Richard B. Für Agnes war die Wohnung nicht fremd. Wir haben sie zusammen neu gestaltet und neu angefangen. Wahrscheinlich wollen Sie wissen, ob Kinder ein Thema waren?
Ja, wenn Sie darüber sprechen wollen.
Richard B. Kinder kamen nicht infrage. Es war für uns ganz selbstverständlich und klar, dass wir die Blindheit nicht weitergeben dürfen.
Agnes B. Da hat man auch eine Verantwortung.
Empfinden Sie Blindsein als so große Bürde?
Richard B. Das wünscht man sich nicht zu Weihnachten! Was uns sehr zusetzt, ist der Lärm. Noch mehr die Gedankenlosigkeit der Menschen. Wenn wir mit einer sehenden Freundin unterwegs sind, kommen Leute auf sie zu und beachten uns nicht. Das tut weh.
Agnes B. Es ist auch schon passiert, dass mir Leute über den Stock gesprungen sind und er dabei kaputtgegangen ist. Oder dass einen jemand einfach in die Bahn schiebt, obwohl man die gar nicht nehmen will.
Richard B. Ich bin auch schon auf die Stadtbahngleise gefallen. Als Blinder zu leben ist wie ein Beruf, den man lernen muss.
Tun sich Paare leichter, wenn ein Partner sieht?
Richard B. Natürlich ist das im Alltag einfacher. Aber, wenn man sich auf einer Ebene begegnet, hat das auch Vorteile.
Agnes B. Wenn ein Partner sieht, wird der Blinde oft unselbstständiger.
Sie beide verstehen einander sicherlich . . . 
Agnes B. . . . blind!
Genau! Verbindet das Blindsein automatisch?
Richard B. Blindsein allein reicht nicht als Gemeinsamkeit. Es sind doch viele Kleinigkeiten, die verbinden. Zum Beispiel mögen wir beide alles: Gemüse, Obst, Teigwaren, Kartoffeln . . .
Agnes B. Wir schätzen Rituale wie das gemeinsame Essen. Oder dass wir abends zusammen am Tisch sitzen und ein Glas Wein trinken.
Sehende haben oft ein Bild im Kopf, wenn sie an jemand denken. Wie ist das bei Ihnen?
Richard B. Ich denke an ihre Stimme. Und für mich ist es wichtig, dass ich weiß: Die Agnes hat eine ansprechende Figur.
Agnes B. Ich höre immer wieder, dass Richard so schöne weiße und lockige Haare hat, und das stelle ich mir dann vor: alles ganz hell.