Die Rising-Star-Höhle in der Nähe der südafrikanischen Millionenstadt Johannesburg hat sich als eine wahre Fundgrube entpuppt: Bisher wurden dort mehr als 1700 Überreste früher Menschen gefunden. Nun werden die Knochen in einem Riesenpuzzle zusammengesetzt.

Stuttgart - John Hawks strahlt vor Begeisterung: „Es ist einfach verrückt, was da passiert.“ Mit „da“ meint der US-amerikanische Paläontologe von der Universität in Wisconsin die südafrikanische Rising-Star-Höhle. Diese gehört während seines Aufenthalts an der Johannesburger Witwatersrand-Universität zu seinen wichtigsten Forschungsobjekten. Seit im Herbst 2013 dort fossile menschliche Überreste entdeckt wurden, ist – um im Bild zu bleiben – in der Frühmenschenforschung nicht nur ein Stern, sondern ein ganzer Sternenhimmel aufgegangen: Inzwischen sind aus der Rising-Star-Höhle mehr als 1700 uralte menschliche Überreste geborgen worden, wie Hawks berichtet. Und dabei sei erst ein winziger Bruchteil der Fundstätte archäologisch bearbeitet. Dies sei zweifellos die größte Lagerstätte menschlicher Fossilien, die jemals in Südafrika entdeckt wurde, schwärmt der Urmenschenforscher.

 

Die neue Offenheit der südafrikanischen Paläontologen

Bemerkenswert ist aber nicht nur die Fülle der Funde, sondern auch die Art, wie sie der Öffentlichkeit präsentiert werden. Früher war es die Regel, dass Forscher ihre prähistorischen Funde zunächst im stillen Kämmerlein untersuchten und allenfalls einige wenige andere Wissenschaftler ins Vertrauen zogen. Erst wenn der Fund wissenschaftlich ausreichend bearbeitet war, wurde er der Fachwelt präsentiert – und auch dann noch lange nicht allgemein für die weitere Forschung zugänglich gemacht. Das wollen der Paläontologe Lee Berger von der Witwatersrand-Uni und seine Kollegen aber ändern und haben daher eine neue Offenheit proklamiert.

In der Fachwelt ist Lee Berger vor allem als Entdecker des Australopithecus-sediba-Skeletts bekannt (siehe Infokasten). Heute lagern in einem gut gesicherten Raum der Witwatersrand-Uni unzählige Originalfossilien aus Südafrika, aber auch aus anderen Regionen. Nach wenigen Jahren eigener Forschung sollen die Funde auch anderen Wissenschaftlern zugänglich gemacht werden. Angst vor geistigem Diebstahl haben die südafrikanischen Forscher nicht. Sie sind überzeugt, dass dies in der wissenschaftlichen Welt heutzutage sofort auffallen würde.

Schlanke Höhlenforscherinnen

Eine Folge dieser neuen Offenheit ist sicherlich auch die Entdeckung der fossilen Lagerstätten in der Rising-Star-Höhle und die rasche Bearbeitung der dort gemachten Funde. Lee Berger hatte nämlich Höhlenabenteurer aus der Umgebung gebeten, bei ihren Klettertouren auf Fossilien zu achten. Und das haben Steve Tucker und Rick Hunter auch getan: Die beiden Höhlengänger berichteten Berger im Herbst 2013, dass sie in der Rising-Star-Höhle offenkundig auf fossile menschliche Überreste gestoßen waren.

Allerdings ist der Zugang zu dieser Fundstätte in etwa 30 Meter Tiefe äußerst knifflig: ein rund zwölf Meter langer, an der engsten Stelle gerade einmal 18 Zentimeter breiter Kamin. So griffen Lee Berger und John Hawks zu einer ungewöhnlichen Methode: Sie machten ihre Forschung öffentlich und suchten in den sozialen Netzwerken nach geeigneten Mitarbeitern bei der Bergung der Fundstücke. Diese mussten sowohl Höhlenerfahrung als auch wissenschaftliche Expertise mitbringen. Vor allem aber mussten sie dünn genug sein, um durch den engen Zugang zu passen. Die Resonanz auf diesen Aufruf war beachtlich. Ausgewählt wurden schließlich sechs Nachwuchsforscher, allesamt Frauen.

Fossile Schatzkammer

John Hawks indes hat wegen seines stämmigen Körperbaus zumindest derzeit keine Chance, zu den Fundstätten hinabzusteigen. An der Bergung der Funde ist er aber trotzdem beteiligt, und zwar mit Hilfe von Videokameras. Zur Erkundung der Fundstätten seien mehr als zwei Kilometer Kabel verlegt worden, berichtet der Paläontologe.

Als dann zunächst im November 2013 und dann noch einmal im Januar 2014 die ersten Fossilien aus der Höhle geholt wurden, war schnell klar, dass es sich um mindestens fünfzehn Individuen handeln musste: Männer und Frauen, Kinder und Erwachsene. „Dies ist eine einzigartige Fundstätte mit superinteressanten Funden“, sagt Hawks ehrfurchtsvoll.

Schon diese ersten Einblicke in diese fossile Schatzkammer hatten deren Reichtum offenbart. Nun galt es, die Funde zu sichten, zu dokumentieren und einzuordnen. Auch dabei gingen die südafrikanischen Forscher ganz neue Wege, wobei sie sich erneut der sozialen Medien bedienten. Nachdem die Funde geborgen waren, suchten sie umgehend nach Nachwuchsforschern aus aller Welt, die sich an einem Riesenpuzzle beteiligen wollten: Die vielen Knochen müssen sortiert und anatomisch zueinander passend zusammengesetzt werden. „Wir machen das mit einem richtigen forensischen Forschungsansatz“, erläutert Hawks. Wie Gerichtsmediziner puzzelten die 35 ausgewählten Jungwissenschaftler nun die Knochen zusammen.

Eine Hand wird zusammengepuzzelt

Der Erfolg ließ nicht auf sich warten. Nicht ohne Stolz präsentiert John Hawks eine bereits zusammengesetzte Hand – als Beispiel dafür, wie die Forscher in den nächsten Monaten und Jahren die gefundenen Frühmenschen „wiederauferstehen“ lassen wollen. Fotografiert werden darf die Hand aber noch nicht – die erste Veröffentlichung sei einem renommierten Fachmagazin vorbehalten, wirbt Hawks um Verständnis.

Fragen gibt es allerdings noch viele. So weiß niemand, warum in dieser Höhle so viele Knochen lagern. Und die Forscher haben auch noch keine richtige Vorstellung, wie alt die Funde sind. Die geologischen Zusammenhänge und die verwandtschaftlichen Merkmale der Fossilien müssen erst noch analysiert werden. Vielleicht sind sie ähnlich alt wie andere Frühmenschen-Funde aus dieser Gegend – also wie Australopithecus africanus möglicherweise zwei Millionen Jahre oder noch älter.

Die Wiege der Menschheit

Weltkulturerbe
Wiege der Menschheit, englisch Cradle von Humankind, heißt die Region in der Nähe der Stadt Krugersdorp, die etwa 45 Kilometer nordwestlich von Johannesburg in der südafrikanischen Provinz Gauteng liegt. Dort wurden viele frühmenschliche Fossilien gefunden. Im Jahr 1999 wurde das 47 000 Hektar große Gebiet zum Weltkulturerbe erklärt.

Höhlen Die Wiege der Menschheit umfasst zahlreiche unterirdische Fundstellen. Dazu zählt insbesondere die Sterkfontein-Höhle, die aus mehreren Höhlen besteht. Sie wird von der Witwatersrand-Universität in Johannesburg verwaltet. In der benachbarten Malapa-Höhle wurden mehr als 220 Fragmente von mindestens fünf Skeletten der Australopithecus-sediba-Urmenschen gefunden.

Mrs. Ples 1947 wurde ein beinahe vollständiger Urmenschen-Schädel aus der Wand der Sterkfontein-Höhle herausgesprengt. Er wurde zunächst als Plesianthropus africanus klassifiziert, daher der Spitzname Ples. Da der Schädel vergleichsweise klein ist und weibliche Merkmale aufzuweisen schien, wurde daraus Mrs. Ples – es dürfte aber eher ein Junge gewesen sein. Inzwischen wurde der Fund als Australopithecus africanus eingeordnet.

Litte Foot
Mit einem Gitter vom Rest der Sterkfontein-Höhle abgetrennt ist die Fundstelle eines Urmenschen, der wegen seiner kleinen Fußknochen Little Foot getauft wurde. Es ist das vollständigste bekannte frühmenschliche Skelett. Geschätztes Alter: zwischen zwei und mehr als drei Millionen Jahre.