Die heutigen Inuit sind keine direkten Nachfahren der ersten Siedler im hohen Norden. Denn die Kultur der Paläo-Eskimos ging in einem relativ kurzen Zeitraum vor etwa 700 Jahren zu Ende.

Stuttgart - Verärgert reagieren die Inuit, die Ureinwohner der Arktis, wenn Menschen aus dem Süden Kanadas oder Europäer das Nordpolgebiet als unbewohnten Raum bezeichnen. Seit mehreren Tausend Jahren leben Inuit im hohen Norden. Eine neue genetische Studie versucht, Licht in zwei große Besiedlungswellen zu bringen, die sich vor 4000 und 2000 Jahren vollzogen. Sie zeigt, dass die heutigen Inuit offenbar keine direkten Nachfahren der ersten Siedler, der Paläo-Eskimos, sind. Aber es gibt immer noch viele ungelöste Fragen zur Besiedlung der Arktis.

 

Warum die zu den Paläo-Eskimos gehörende Dorset-Kultur binnen weniger Jahrhunderte durch die jüngere Thule-Kultur ersetzt wurde, bleibt ein Geheimnis. „Es ist ein Mysterium, wieso eine Kultur, die Jahrtausende überlebte, in einem relativ kurzen Zeitraum mit dem Auftauchen einer anderen Kultur unterging“, sagt Eske Willerslev vom Zentrum für Geogenetik am naturhistorischen Museum der Universität von Kopenhagen. Er leitete eine Forschergruppe, die jetzt im Fachmagazin „Science“ eine Studie über die genetische Prähistorie der Arktis der Neuen Welt publizierte.

Die Paläo-Eskimos kamen aus Sibirien

Vor 5000 bis 6000 Jahren waren die Menschen, die später die Arktis vom heutigen Alaska über Nordkanada bis nach Grönland besiedeln sollten, von Sibirien aus über die Beringstraße nach Nordamerika gekommen. „Die frühesten Belege der Anwesenheit dieser Paläo-Eskimos in der Arktis der Neuen Welt datieren aus der Zeit 3000 bis 4000 Jahre vor Beginn unserer Zeitrechnung“, sagte die kanadische Molekularbiologin Maanasa Raghavan, die leitende Autorin der Studie. Von Alaska aus wanderten sie, beginnend vor etwa 4000 Jahren, langsam Richtung Osten, bis sie die Insel Grönland erreichten. Die Ära der Paläo-Eskimos wird in mehrere kulturelle Phasen unterteilt, unter anderem die Saqqaq- und die Dorset-Kultur.

Etwa vor 2000 Jahren folgte eine zweite Einwanderungswelle. Auch diese als Neo-Eskimos bezeichneten Menschen siedelten zunächst in Alaska. Sie entwickelten eine im Vergleich zu den Paläo-Eskimos fortgeschrittene Kultur, die Thule-Kultur. Diese ist geprägt von großen Booten, Hundeschlitten und Jagdwaffen. Vor 1000 Jahren begannen die Thule ihre Wanderung und erreichten bereits zwei oder drei Generationen später Grönland. Vor etwa 700 Jahren hatten sie dann vollständig die Dorset-Kultur ersetzt.

Die Forscher untersuchten unter anderem die sogenannte mitochondriale DNA in historischen Funden menschlicher Knochen, Zähne und Haare aus Sibirien, Alaska, Kanada und Grönland sowie das Genom heutiger grönländischer Inuit, sibirischer Niwchen, der Aleuten und Athabasca-Indianer. Zudem wurde zur Zeitbestimmung die Radiokarbonmethode angewandt.

Paläo-Eskimos lebten in fast völliger Isolation

Die Wissenschaftler vermuten, dass Paläo- und Neo-Eskimos vermutlich in Sibirien gemeinsame Vorfahren hatten. Die Untersuchungen ergaben, dass es zwar vor mehr als 4000 Jahren einen Austausch von Genen, also sexuelle Kontakte zwischen den Paläo- und den Neo-Eskimos gab, überraschend aber war die Entdeckung, dass sich dann über vier Jahrtausende hinweg die Paläo-Dorset-Eskimos in fast völliger Isolation vom Rest der Menschheit entwickelten, getrennt von den Neo-Eskimos, aber auch anderen Ureinwohnern Nordamerikas. Die Paläo-Eskimos repräsentierten eine „Bevölkerung, die über mehr als 4000 Jahre eine genetische Kontinuität“ aufweise, meint Willerslev. „Es war eine überraschende Entdeckung, dass sie wirklich in biologischer Isolation lebten, obwohl sie vermutlich Indianern und Thule begegnet waren.“

Warum die Paläo-Eskimos den Kontakt mit anderen Gruppen vermieden, darüber kann Willerslev nur spekulieren. Vielleicht verbot dies ihre Religiosität. „Sie schienen die genetische Zufuhr von außerhalb zu verweigern.“ Warum die Paläo-Eskimos dann binnen weniger Jahrhunderte nach dem Auftauchen der Thule verschwanden, „das ist weiter die Eine-Million-Dollar-Frage“. Möglicherweise führten Krankheiten zu ihrem Verschwinden. Auch kriegerische Konflikte könnten das Verschwinden gefördert haben, obwohl es laut Willerslev keine Hinweise auf Gewalttaten gibt.

Der Anthropologe Robert Park von der University of Waterloo in Kanada hat eine von Willerslev abweichende Erklärung. Er hält es für schwer vorstellbar, dass die kulturellen Barrieren zwischen den beiden Eskimogruppen so stark waren, das sie eine „völlige reproduktive Isolation“ schaffen konnten. Er interpretiert das Fehlen genetischer Linien zwischen Paläo-Eskimos und Thule als möglichen indirekten Beweis dafür, dass die Paläo-Eskimos ausstarben, bevor die Thule ihr Gebiet erreichten.

Auch kein Genaustausch mit den Wikingern

Es gab auch keinen Gen-Austausch zwischen den Dorset und Thule sowie den Wikingern, die um 1000 in der Arktis siedelten. Die Thule sind nach den Erkenntnissen der Forschergruppe um Willerslev die genetischen und kulturellen Vorfahren der heutigen Inuit. Ein weiteres Rätsel scheinen die Forscher dagegen geklärt zu haben: In den Jahren 1902 und 1903 vernichteten Krankheiten, die Walfänger einschleppten, die Bevölkerung zweier kleiner Inseln in der nördlichen Hudson Bay. Diese Sadlermiut genannten Menschen galten wegen ihrer von den angrenzenden Inuit-Gemeinden abweichenden Gebräuche und Sprache bisher als die letzten Nachfahren der Dorset-Kultur und der Paläo-Eskimos. Dem widersprechen die genetischen Untersuchungen. Sie ergaben, dass die Sadlermiut genetisch nahe Verwandte der Thule und der heutigen Inuit waren und nicht der Paläo-Eskimos.