Das gut erhaltene Fossil eines zehn Zentimeter langen Insekts zeigt einen Übergang in der Evolution: Das Tierchen hatte noch keine richtigen Flügel, berichten Stuttgarter Forscher, konnte aber schon durch die Luft gleiten.

Stuttgart - Es geschah vor 309 Millionen Jahren: in der heutigen Tschechei ging ein vulkanischer Ascheregen auf die Sumpf- und Seenlandschaft der Steinkohlenzeit (Karbon) nieder und begrub viele Tiere und Pflanzen unter sich. 1985 wurde eines der damals konservierten Tiere entdeckt und von der Paläontologin Jarmila Kukalova-Peck als bisher unbekannte Larve einer Eintagsfliege beschrieben. Und so erhielt das Tierchen seinen wissenschaftliche Namen Carbotriplura kukalovae.

 

Doch bald tauchten Zweifel auf, ob es sich bei dem mit zehn Zentimeter Körperlänge beeindruckenden Insekt wirklich um eine fossile Eintagsfliegenlarve handelt. Und so reiste der Spezialist Arnold Staniczek vom Stuttgarter Naturkundemuseum 2012 nach Tschechien: Am Museum für tschechischen Karst in Beroun nahm er das Fossil in Augenschein und fotografierte es von allen Seiten. Zusammen mit seinem Stuttgarter Kollegen Günter Bechly und dem tschechischen Insektenforscher Pavel Sroka untersuchten sie dann das hervorragend konservierte Fossil, um dessen Stellung in der stammesgeschichtlichen Entwicklung der Insekten zu klären.

Herausgekommen ist ein für Biologen aufregendes Ergebnis: Bei dem Tier handelt es sich um ein Bindeglied zwischen den ungeflügelten und geflügelten Insekten. Eine frisch geschlüpfte Larve konnte es jedenfalls nicht sein – dazu war es mit zehn Zentimetern zu groß. Und eine ältere Larve kam aus verschiedenen Gründen auch nicht infrage. Also musste es ein ausgewachsenen Tier gewesen sein. Hier gleicht es vordergründig einem Silberfischchen, ein zu den Urinsekten gehörendes flügelloses Tierchen, das auch heute noch als zwar harmloser, aber meist ungebetener Gast in manch Wohnung umherwuselt.

Bei genauerem Hinsehen weist das kohlezeitliche „Silberfischchen“ indes deutliche Merkmale von höher entwickelten Insekten auf. Dazu zählen vor allem die großen Komplexaugen, aber auch die langen, schlanken Beine sowie die deutlich vergrößerten mittleren und hinteren Brustabschnitte. Gerade dieses Merkmal ist jedoch nur bei Insekten zu finden – schließlich sind hier die Flügel verankert.

Das Urinsekt flatterte nicht, konnte aber durch die Luft gleiten

Wie passt das alles zusammen? Ein geflügeltes Insekt war das Tier sicher nicht. Die großen Augen sowie die schlanken Beine könnten nach Meinung der beiden Stuttgarter Forscher darauf hindeuten, dass es am Tag unterwegs war und auf Bäumen herumgeklettert ist – die waren im Kohlezeitalter 30 bis 40 Meter hoch. Und da ist es manchmal hilfreich, sich einfach fallen zu lassen, wenn man schnell fliehen muss oder zu einem anderen Baum wechseln will.

So macht es jedenfalls heute ein Felsenspringer in Peru. Das wie die Silberfischchen zu den Urinsekten gehörende flügellose Tierchen segelt mit seinen allerdings nicht übermäßig stark verbreiterten Rückengliedern förmlich aus den Bäumen in die Tiefe und kann dabei sogar steuern. Genauso könnte es Carbotriplura in der Steinkohlenzeit gemacht haben: Ihre seitlich abgeflachten Segmente an Brust und Hinterleib könnten ein Gleiten in der Luft ermöglicht und die langen Schwanzanhänge den Flug gesteuert haben.

Interessant ist, dass Evolutionsbiologen schon lange solch ein Bindeglied – ein sogenanntes Missing Link – zwischen geflügelten und ungeflügelten Insekten postuliert haben. Die von ihnen angefertigten hypothetischen Zeichnungen ähneln verblüffend der zeichnerischen Rekonstruktion, welche die Stuttgarter Museumswissenschaftler jetzt von dem steinkohlenzeitlichen Insekt angefertigt haben.

Und noch ein Schluss liegt nahe: die Urahnen der geflügelten Insekten waren keine aktiven Flatterer, sondern passive Gleiter. Dabei haben sich die Flügel aus tragflächenartigen Rückenplatten der Bindeglied-Insekten entwickelt und nicht, wie ebenfalls vermutet wurde, aus Beinanhängen oder im Wasser aus beweglichen Kiemen. Ob diese Theorie zutrifft, lässt sich derzeit allerdings nicht entscheiden. Hier können die Forscher nur auf neue Funde hoffen – oder auf „paläontologisches Data-Mining“, also die tiefgreifende und sachkundige Analyse von Fossilien, die bereits in öffentlich zugänglichen Museen lagern.