Bei den Paralympics in Pyeongchang genießt Anja Wicker aus Stuttgart eine gesteigerte Aufmerksamkeit. Nach den Winterspielen kämpfen die Spitzensportler mit Handicap wieder gegen das Schattendasein.

Stuttgart - Anja Wicker schläft mit einem Gewehr unter dem Bett, das größer ist als sie selbst. Die 26-Jährige ist indes kein Waffennarr und lebt auch in keiner Wilder-Westen-Fantasie. Dennoch begleitet sie die Waffe schon seit langer Zeit. Die Stuttgarterin ist Biathletin und hat vor einigen Jahren den Tipp eines anderen Sportlers beherzigt. Der sagte ihr damals, sie solle mit dem Gewehr umgehen wie mit dem Partner. Und der schläft meist ja mit im eigenen Bett. Soweit geht Wicker nun nicht, das Gewehr liegt darunter – ihr Leben aber dreht sich ganz um den Sport.

 

Wicker gewinnt in Sotschi überraschend Gold

Die Biathletin holte bei ihren ersten Paralympics in Sotschi vor vier Jahren überraschend Gold. Mit dem Erfolg hatte damals niemand gerechnet, auch sie selbst nicht. Vier Jahre später will sie in Pyeongchang wieder im Biathlon und im Langlauf angreifen. Sie gehört zu den 20 deutschen Athleten, die bei den Paralympics starten, am Freitag steigt die Eröffnungsfeier.

Die Paralympics vor vier Jahren hat sie als sehr positiv erlebt – nicht nur wegen ihrer Goldmedaille. „Es waren tolle Spiele und wir haben viel Aufmerksamkeit bekommen“, sagt Wicker. Das sei nicht immer so gewesen: „Vor den Paralympics in Vancouver 2010 sind wir unter dem Radar geflogen.“ Das sei heute besser. Allerdings: die Aufmerksamkeit gibt es nur zum Großevent Paralympische Spiele. „Es wäre toll, wenn uns zwischendrin auch jemand beachten würde“, sagt Wicker.

Strecken in Pyeongchang am Laufband simuliert

In Stuttgart trainiert sie meist am Olympiastützpunkt, der vor ein paar Jahren barrierefrei gemacht wurde. Für Wicker, die am kaudalen Regressionssyndrom leidet, bedeutet das vor allem Arbeit an Schultern und Armen. Weil ihre Beine stark verkürzt sind, sitzt sie sowohl beim Biathlon als auch beim Langlauf auf einem Schlitten, der mit Skistöcken angeschoben wird. Die Strecken in Pyeongchang wurden am Laufband nachgestellt, das Höhenprofil ist im Fitnessgerät einprogrammiert. Mit dem Skiroller unter ihrem Schlitten konnte sie so realitätsnah ihre Vorbereitung steuern.

Ihre Trainingsbedingungen sind somit besser als noch vor einigen Jahren, trotzdem gibt es in Wickers Augen noch einigen Nachholbedarf, um den Behindertensport mit dem der Nicht-Behinderten auf eine Stufe zu stellen. „Das fängt schon bei kleinen Dingen an. Die olympischen Athleten werden komplett eingekleidet. Wir haben vom Sponsor eine Auswahl an Kleidung bekommen, die wir untereinander verteilt haben“. Das Anpassen der Kleidungsstücke übernehmen die Athleten selbst. Die gestellten Teile sind allerdings nur für einige Anlässe wie Eröffnungs- und Abschlussfeier vorgesehen. Die Wettkampfkleidung selbst ist nicht einheitlich, die Athleten starten mit der jeweiligen Trikotausstattung, die sie von den heimischen Verbänden bekommen haben.

Für viele ist Behindertensport Sport zweiter Klasse – auch der paralympische. Marianne Buggenhagen ist ein Beispiel hierfür. Die Diskuswerferin ist mit neun paralympischen Goldmedaillen eine Ausnahmeathletin. Doch vor den Spielen 2008 in Peking soll sie aus Geldnot kurz davor gestanden haben, ihre Karriere zu beenden.

Die finanzielle Unterstützung ist dürftig

„Vor allem in finanzieller Hinsicht könnte noch einiges verbessert werden“, sagt Wicker aus eigener Erfahrung. Sie studiert Sportmanagement an einer Fernuniversität und weiß, dass es eine Zeit nach der Spitzensport-Karriere geben wird, in der sie Geld verdienen muss. Momentan bekommt sie die Grundförderung der Deutschen Sporthilfe (als A-Kader-Athletin 150 Euro monatlich). Außerdem ist sie im Topteam des Deutschen Behindertensportverbands und erhält 500 Euro monatlich.

Es ist ein bekanntes Problem: für Leistungssportler ist es schwierig, Schule, Studium oder Beruf mit der sportlichen Karriere zu vereinbaren. Für die Zeit nach dem aktiven Sport sollte ein zweites Standbein existieren. Für Sportler ohne Behinderung gibt es die Sportförderung der Bundeswehr, mit der eine Karriere in der Bundeswehr nach und während der sportlichen Karriere möglich ist. „Ich würde mir wünschen, dass es so etwas auch für behinderte Sportler geben würde“, sagt Wicker.

Aktuell bekommen 17 Sportler mit Behinderung eine sogenannte Individualförderung, die in den Ministerien der Finanzen, des Innern und der Verteidigung angelegt ist. Neun davon werden von der Bundeswehr gefördert. Die Förderbeiträge liegen in einer Größenordnung zwischen 1000 und 2000 Euro, heißt es seitens der Bundeswehr. „Mit dieser Individualförderung kann der aktuelle Lebensstandard gehalten werden“, sagte ein Sprecher.

Die Karriere nach der Karriere als Problem

Nach dem Ende der sportlichen Karriere ist dann allerdings Schluss, eine Laufbahn in der Bundeswehr nicht angeschlossen. Dieses Konzept werde momentan überarbeitet. Die Idee: den behinderten Sportlern eine zivile Karriere in der Bundeswehr zu ermöglichen.

Unfair behandelt fühlt sich Wicker nicht. „Es ist nicht alles toll. Der Behindertensport ist aber nicht alleine, in vielen Breitensportarten gibt es Nachholbedarf.“ Nicht nur der Behindertensport habe es im vom Fußball dominierten Deutschland schwer, sich durchzusetzen. Es sei nicht alles perfekt, aber vieles besser geworden in den vergangenen Jahren.

Anja Wicker blickt positiv in die Zukunft – nicht zuletzt wegen eines „sehr engagierten“ Präsidenten des Behindertensportverbands, Friedhelm Julius Beucher. Sie weiß aber auch: „Veränderungen finden nur im Schneckentempo statt.“