Vor vier Jahren versprach Justin Trudeau „sonnige Wege“ – nun ist die Liebe zwischen dem einst gefeierten Premier und den Kanadiern nach Skandalen erloschen. Bei der engen Parlamentswahl in Kanada hat er aber einen Vorteil: seinen Herausforderer.

Ottawa - Wenige Stunden vor der Öffnung der Wahllokale zeigt sich Justin Trudeau noch einmal von seiner besten Seite. In hautengem T-Shirt, leicht verschwitzt und gut ausgeleuchtet klettert er einen Berg in Vancouver hoch. Das Video, das sein Wahlkampfteam verbreitet, könnte symbolischer kaum sein: Trudeau geht jugendlich-dynamisch voran, bergauf - und das auch noch in den dichten kanadischen Wäldern, die er doch vor dem Klimawandel schützen wolle.

 

Es sind perfekt inszenierte Bilder, die aber nicht darüber hinwegtäuschen können, dass die Liebe zwischen den Kanadiern und ihrem Premier erloschen ist. Und dass mit Andrew Scheer ein konservativer Herausforderer bereit steht, die bei der Wahl am Montag nach der Macht greifen will. Auch Scheer postet ein Video. Auch er läuft durch den Wald - nur langsamer, langweiliger. Der 40-Jährige ist keiner, der die Massen begeistert. Trotzdem wackelt die Mehrheit des einstigen Polit-Superstars Trudeau bedenklich. 

Tatsächlich hatte Kanadas Premier - 2015 angetreten als liberaler Held, seit 2016 betitelt als „Anti-Trump“ - in den vergangenen Monaten nicht viel zu feiern. Erst wurde öffentlich, dass er Ermittlungen gegen das kanadische Unternehmen SNC-Lavalin wegen Bestechung in Libyen unterdrücken wollte - eine Ethik-Kommission bescheinigte ihm falsches Verhalten. Im September dann tauchte ein 20 Jahre altes Bild auf, das Trudeau mit dunkel geschminktem Gesicht - verkleidet als Aladdin - auf einer Party zeigte. Er entschuldigte sich für sein „rassistisches“ Verhalten, sei schon immer „von Kostümen mehr begeistert gewesen, als es manchmal angebracht ist.“

Trudeau konnte einige seiner Versprechen nicht halten

Doch die Skandale schadeten Trudeau nicht in dem Maße, wie seine Gegner - allen voran Scheer - hofften. Die meisten Kanadier seien der Meinung, den Premier besser zu kennen, erklärt Meinungsforscher David Coletto, Chef der Firma Abacus Data in Ottawa. „Das ist 20 Jahre her und wenn Sie auf seine Karriere als Politiker schauen, sehen Sie, dass es nicht passt.“ Trudeau habe Minderheiten aktiv eingebunden.

Trotzdem sind viele ernüchtert, dass Trudeau einige seiner Versprechen - eine Wahlrechtsreform oder ein ausgeglichener Haushalt bis 2019 - nicht gehalten hat. Kritiker empfinden auch seine Klimapolitik trotz der Einführung einer CO2-Steuer als nicht weitreichend genug. Doch es gab auch Erfolge: eine bessere Unterstützung für einkommensschwache Familien, die recht reibungslose Legalisierung von Cannabis und die Rettung des zwischenzeitlich am Abgrund stehenden Handelsabkommens Nafta mit den USA und Mexiko.

Die „sonnigen Wege“ aber, mit denen Trudeau Transparenz und Ehrlichkeit versprach, lagen in den vergangenen vier Jahren zu oft im Schatten. „Ich sage immer, er ist zu einem normalen Politiker geworden“, meint Coletto. Da kommt dem Premier die Wahlempfehlung vom ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama sehr gelegen. Der hatte auf Twitter geschrieben, die Welt brauche Trudeaus „progressive Führung“. Tatsächlich nutze dem die prominente Unterstützung in einigen der letzten Umfragen - gibt es einen „Obama-Effekt“?

Das größte Glück für die Liberalen aber ist der farblose Andrew Scheer. Wenn man Kanadier nach ihm fragt, kommt selten Euphorie auf. Taxifahrer Mike sagt, dass Trudeau zwar ein „Idiot“ gewesen sei, als er sich angemalt habe. „Aber das ist nichts gegen die Falschheit von Herrn Scheer!“. Viele der 37 Millionen im diversen Kanada tendieren zu liberaler und linker Politik. Scheers konservative Ansichten etwa zu Abtreibung oder Schwulenehe kommen bei ihnen nicht gut an. Und es hilft scheinbar nur wenig, wenn dieser ohne Ende wiederholt, die Offenheit bestehender Gesetze nicht antasten zu wollen.

Einen ganz anderen Weg dagegen will Scheer in Sachen Klima gehen. „Die CO2-Steuer hat die Kosten auf die Dinge erhöht, die wir jeden Tag brauchen“, wetterte er. Sein Klima-Programm soll den Kanadiern nicht weh tun. Kritiker halten es für entsprechend wirkungslos. Stattdessen buhlt Scheer beim zweiten großen Wahlkampfthema - der Angst vor steigenden Preisen - um die Gunst der Wähler.

Es könnte die Stunde der kleinen Parteien schlagen

Was sich mit einer Regierung unter seiner Führung sonst ändern würde, bleibt in vielen Bereichen unklar. Wirtschaftlich trauen die Bürger den Konservativen traditionell viel zu, doch die Ökonomie boomt ohnehin. Und ob ein Premier Scheer mit US-Präsident Donald Trump besser auskommen würde? Berlin jedenfalls würde Trudeau als verlässlichen internationalen Partner wohl vermissen.

Die Umfragen deuten darauf hin, dass keine der Parteien die absolute Mehrheit von 170 Sitzen erreichen kann, Liberale und Konservative sind beim Stimmenanteil fast gleich auf. Doch die Direktkandidaten liegen in vielen Wahlkreisen so nah beieinander, dass eine Prognose schwierig ist.

Im Falle einer nötigen Minderheitsregierung - in Kanada nichts Ungewöhnliches - würde die Stunde der kleinen Parteien schlagen. Ausschlaggebend könnten am Ende neben Yves-François Blanchet vom regionalen Bloc Québécois die Sozialdemokraten von Jagmeet Singh sein. Anders als Blanchet hatte dieser wie auch die Grüne Elizabeth May klar gemacht, Scheer nicht unterstützen zu wollen.

Vor allem Singh hatte bis zum Ende des Wahlkampfes mehr und mehr Leute begeistert und stellte etwa in der TV-Debatte die beiden großen Gegenspieler beim Thema Klima in den Schatten: Kanada müsse „nicht zwischen Herrn Verzögerung (Trudeau) und Herrn Leugnung (Scheer) wählen“, sagte er. „Es gibt eine andere Option.“