Je näher die Wahlen rücken, umso unübersichtlicher ist die Lage in Italien. Keiner wagt mehr vorauszusagen, ob überhaupt handlungsfähige Mehrheiten zustande kommen werden.

Rom - Knapp 51 Millionen Italiener sind am Sonntag und am Montag aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen. Bei einem geordneten Verlauf der Legislaturperiode hätten sie das erst im April tun müssen. Aber Anfang Dezember hatte Stimmungsreiter Silvio Berlusconi dem Ministerpräsidenten Mario Monti das Vertrauen aufgekündigt; die „Techniker-Regierung“ war nach nur dreizehn Monaten Amtszeit handlungsunfähig; die Ereignisse überstürzten sich.

 

Italien wählt damit erstmals im Winter, in meteorologischer wie in konjunktureller Hinsicht: Noch nie war das Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialklima so frostig wie in diesem Februar, und es soll noch kälter kommen. Konjunkturquoten über Null erwarten alle Forschungsinstitute erst wieder für Frühling kommenden Jahres.

Das Land ist im Umbruch

Politisch befindet sich das Land bereits jetzt im Umbruch. Bei den vergangenen Wahlen konnten sich die Italiener politisch wirksam nur zwischen zwei großen Formationen entscheiden: dem Mitte-Rechts-Lager unter Berlusconi und einem Mitte-Links-Bündnis unter Walter Veltroni. Beide hatten die traditionell zahlreichen italienischen Splittergruppen in die Bedeutungslosigkeit gedrängt. Das eigenständige, christdemokratische Zentrum als dritte Formation blieb bei 5,6 Prozent der Stimmen hängen.

Fünf Jahre später ist alles anders. Da ist zunächst der Massenandrang: Um die 630 Sitze im Abgeordnetenhaus und um die 315 Mandate im Senat bewerben sich 16 200 Kandidaten, das sind um zwei Drittel mehr als 2008. Die Zahl der antretenden Parteien und Listen hat sich von 70 auf 122 vermehrt. Statt zweieinhalb politisch bedeutsamen Formationen stehen heute viereinhalb zur Auswahl. Zusätzlich könnten ein paar Kleinparteien, auch wenn sie selbst an den Sperrklauseln scheitern, den Großen in die Parade fahren. Und dann könnten auch noch die drei gleichzeitig stattfindenden Landtagswahlen – in den wichtigen Regionen Lombardei und Latium, sowie im kleinen Molise – mit insgesamt 12,8 Millionen Wählern ihre Eigendynamik entwickeln.

Berlusconi ist im Fernsehen allgegenwärtig

Mitte-Rechts wird nach langem Hin und Her wieder geführt von Berlusconi. Allerdings haben dessen Allgegenwart im Fernsehen und die Fokussierung der Berichterstattung auf ihn vergessen lassen, dass hinter dem viel versprechenden Alleinunterhalter keine Partei mehr steht: Berlusconis PDL („Volk der Freiheit“) befand sich im vergangenen Herbst in voller Auflösung. Der Formalzwang, zur Wahl als Organisation anzutreten, hat die Brüche zugekleistert, aber nicht geheilt.

Mitte-Links unter Pier Luigi Bersani trägt seine kontinuierliche Identitätsfindung offen aus: Da gibt es die Zentristen, die mit Mario Monti koalieren wollen, die Ideologen, die von Monti weg wollen und sich auf Gedeih und Verderb dem linken Gewerkschaftsbund CGIL verpflichtet sehen, und als dritte Kraft – zugleich auf Eigenständigkeit wie auf „originäre“ Zugehörigkeit zu den Sozialdemokraten pochend – die ultralinke Formation SEL des apulischen Regional-Gouverneurs Nichi Vendola.

Bersani und Monti tun sich möglichst wenig weh

Praktisch kaltgestellt wurde die große Anhängerschaft des jungen und undogmatischen Bürgermeisters von Florenz, Matteo Renzi, der bei den parteiinternen Vorwahlen für den Spitzenkandidaten im Dezember gegen Bersani unterlegen war.

Genau seit Dezember sinken aber eben auch die Umfragewerte der Sozialdemokraten. Zusammen mit der Aufholjagd Berlusconis führte das schließlich dazu, dass sich der Abstand zwischen den beiden Blöcken, der Ende Dezember noch bei 12,5 Prozent lag, auf die Hälfte bis ein Drittel verringert hat – je nachdem, welche Umfrage man heranzieht.

Neu und von sehr verschiedener Art sind in diesem Jahr die beiden anderen Blöcke: Mario Monti und Beppe Grillo. Montis „Bürgerwahl“ („Scelta Civica“) wird im Abgeordnetenhaus keine große Rolle spielen. Aber falls Bersanis Sozialdemokraten die Wahl gewinnen, sind sie wahrscheinlich im Senat auf eine Koalition mit Monti angewiesen. Deswegen versuchen Bersani und Monti im Wahlkampf, einander nicht stärker weh zu tun als zur Selbstprofilierung nötig. Eine Koalition zwischen den beiden gilt international als die günstigste und verlässlichste unter den derzeit für Italien möglichen Regierungsformen.

Beppe Grillo nennt seinen Wahlkampf „Tsunami-Tour“

Beppe Grillo hingegen ist der „Tsunami“ der italienischen Politik – und bezeichnet sich auch selbst so. Als praktisch Einziger hat er in diesen eiskalten Winterwochen einen konventionellen Wahlkampf geführt: Während die Konkurrenten nur in warmen Sälen und wohltemperierten Fernsehstudios auftraten, war der frühere Showstar Grillo (64) mit seinen Bühnen im gesamten Land präsent. In seiner aus dem Internet und aus der tief sitzenden Frustration über die „politischen Klasse“ geborenen „Fünf-Sterne-Bewegung“ („Movimento 5 Stelle“) sammelt sich der Protest vor allem junger Leute. Unter den drei Millionen Neuwählern, die zwischen 18 und 23 Jahre alt sind, liegt Grillo in den Umfragen mit mehr als 30 Prozent einsam an der Spitze. Insgesamt werden ihm im letzten Sprint durchaus mehr als 20 Prozent zugetraut – aber keiner weiß, was die „Grillini“ im Parlament damit anfangen wollen.

Die Bewegung ist von ihrem monarchisch durchregierenden Gründer auf Fundamentalopposition getrimmt, auf Radikalpopulismus, auf Euro-Feindlichkeit. Womöglich haben die „Fünf Sterne“ angesichts des ungebremst wachsenden Zuspruchs nicht einmal genügend Kandidaten aufgestellt, und womöglich hat Grillo inzwischen Angst vor dem eigenen Erfolg. So erklärt es sich jedenfalls, dass er die Gelegenheit zu einem abschließenden großen Fernsehauftritt in letzter Minute ausgeschlagen hat.

Bauchschmerzen für die Sozialdemokraten

Die Sozialdemokraten, denen der „Faktor G“ zuletzt immer mehr Bauchschmerzen bereitet hat, erklären Grillos Rückzug anders: Er habe schlichtweg den Fragen der Journalisten ausweichen wollen, sagt Bersani. Damit könnte er sogar recht haben: Grillo hat bisher lediglich eine geradezu berlusconianisch ausufernde Selbstdarstellung im Programm; Nachfragen hat er nie zugelassen. Und auch wenn die Kandidaten seiner Bewegung eher der grün-aktivistischen Basis oder einem geistigen Umfeld der „Piraten“ entstammen: es gibt Italiener, die Grillo selbst unter eine Art Faschismus-Verdacht stellen.

Nicht nur Grillo könnte den Sozialdemokraten schaden, sondern auch die neu gegründete „Rivoluzione Civile“. Sie geht aus von Antonio Ingroia, einem der berühmtesten Anti-Mafia-Staatsanwälte in Sizilien. Um ihn versammelt hat sich eine Reihe jener Altkommunisten, die 2008 aus dem Parlament geflogen sind; Ingroia nagt erfolgreich am linken Rand von Bersanis Partei – was gerade im ohnehin stark umkämpften Senat dazu führen könnte, dass Bersani fürs Regieren zu schwach abschneidet. Stützen kann ihn Ingroia dann aber nicht: Die Chance, dass seine Partei die Acht-Prozent-Hürde für den Senat überspringt, ist praktisch gleich Null.

Wenige Tage vor der Wahl ist deren Ausgang insgesamt viel unsicherer, als es in den vergangenen Monaten aussah. Ob handlungsfähige Parlamentsmehrheiten zustande kommen, kann keiner mehr voraussagen. Und ob sich eine Regierung zusammenfindet, die fünf Jahre Legislaturperiode überdauert, dazu werden schon fast keine Wetten mehr angenommen.