Stuttgarts Beitrag zum Wagnerjahr: der „Parsifal“ ist wieder am Opernhaus zu sehen, erstmals dirigiert vom Generalmusikdirektor Sylvain Cambrelaing persönlich.

Stuttgart - So richtig ist Sylvain Cambreling erst am Ostermontag in Stuttgart angekommen. In einem Traditionshaus wie der Staatsoper Stuttgart zählt halt, wie der Chef Mozart und Wagner dirigiert. Jetzt also Cambrelings Stuttgarter Wagner-Premiere mit der „Parsifal“-Wiederaufnahme. Vor drei Jahren kam Calixto Bieitos Inszenierung heraus, damals stand Cambrelings Vorgänger Manfred Honeck am Pult – es war eine seiner besten Produktionen.

 

Mit dem bekennenden Musiktheatermusiker Cambreling am Pult war an diesem Nachmittag rasch klar, dass nun auch die Verbindung zur Bühne eine idiomatischere ist als beim Vorgänger. Seit Claude Debussy ist in Frankreich der „Parsifal“, nicht der „Tristan“ die Referenzpartitur der Moderne: Pierre Boulez setzte bei dem von ihm 1966 in Bayreuth dirigierten „Parsifal“ auf Strukturen statt auf Impression, auf Entwicklung statt auf Statik, auf Umriss der Farbvaleurs statt ihrer Auflösung. Sylvain Cambreling entwickelte diese Strategie weiter. Er hielt an der von Honeck geänderte Orchesteraufstellung fest, bei der die Holzbläser vom linken äußeren Rand des Grabens in die Mitte versetzt wurden. Der Effekt war unmittelbar: deutlicher zeichnende Linien des hohen Bläserchors. Die Partitur enthält ja nicht nur diese wunderbaren Mixturen, wenn etwa die im neunten Takt des Vorspiels einsetzende Trompete das Liebesmahlthema der Oboen und Geigen von innen erleuchtet, nicht aber solistisch hervortreten darf. Zwar kamen diese Mischklänge zu ihrem Recht, viel mehr aber organisierte Cambreling einerseits die übergreifenden Satzstrukturen, andererseits die Details: Kontrapunkte, dynamische Nuancierungen – alles war, ganz ohne Didaktik, klar gegliedert und belebt. Gelegentlich bekam das ungehörte Leichtigkeit: In der Abendmahlszeremonie schlich sich eine beinahe Fauré’sche Heiterkeit ein.

Wahre Wunder zugespitzter Gesten

Hoch spannend war, wie Cambreling die Tempi organisierte. Den ersten Akt nahm er in hundert Minuten und 50 Sekunden, Boulez brauchte 1966 hundert Minuten, Hermann Levi bei der Bayreuther Uraufführung 1882 107 Minuten. Zum Höhepunkt der Aufführung wurde der zweite Akt, auch durch die szenische und singdarstellerische Verdichtung, die Konfrontation von Kundry und Parsifal: exemplarisch textbezogen Christiane Iven mit perlmuttfarbener Mittellage (lockend: „Ich sah das Kind“, himmlisch die L-Laute in „Sein erstes Lallen“) und der naiv-auftrumpfende Andrew Richards. Hier gelangen Cambreling Wunder expressiv zugespitzter Gesten, als seien sie von Alban Berg. Spannungsvoll, überlegen disponiert bildete dieser Akt eine musikalisch-dramatische Einheit, die dem Ideal nahe kam (wenn auch die Blumenmädchen nicht übermäßig homogen waren). Das braucht Bewegungsraum: mit 64 Minuten und 55 Sekunden war Cambreling langsamer als Levi (62) und Boulez (61) – und zeigt wieder die Relativität von absoluter zu perzeptiver Zeit.

Der dritte Akt, dessen zeremoniellen Aspekte Cambreling unterspielte – das Zwischenspiel und der Chor „Geleiten wir“ war kraftvoll, litt jedoch an einer etwas athmosphärelosen, weil zu raschen Steigerungsenergie – hielt nicht die vorangegangene Höhe. Trotzdem: eine bemerkenswerte Einstudierung. Viel versprechend das Debüt von Levente Molnár (Amfortas), eindringlich Attila Jun als Gurnemanz. Hochstimmung im Publikum. Es bleibt spannend: in der kommenden Saison dirigiert Cambreling einen neuen „Tristan“.

Vorstellungen 14., 21., 28. April, 5., 9., 12. Mai