Eine Handvoll Lokalpolitiker will eine Partnerschaft vorbereiten. Der Versuch beginnt holprig. Es gibt kein Geld für freundschaftliche Beziehungen zwischen einem Teil Istanbuls und einem Teil Stuttgarts, keinen Etat.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

Istanbul/S-Mitte - Wer Ruhe sucht, besucht den Bahnhof. Er ist einer der raren Orte im Zentrum Kadiköys, einem Stadtteil Istanbuls, an dem keine Menschenwand jeden zu erschlagen droht, der nicht hinter einer Säule steht, ein Ort, an dem die Hupen der Taxifahrer, die ihren Beruf als Kampfsport begreifen, nur aus der Ferne schallen, über den Bosporus.

 

Ein Bahnwärter verkauft Fahrscheine, nicht für den Zug, für Ersatzbusse. Der Zugverkehr ist seit Jahren eingestellt. Züge stehen hier nur zur Erinnerung. Der Bahnwärter erzählt, dass in ein paar Jahren neue Gleise gebaut werden, dann geht der Bahnhof wieder in Betrieb – vielleicht. Den Bau im Stile des Neoklassizismus haben zwei Deutsche entworfen, Otto Ritter und Helmuth Cuno. Das Andenken an die Erbauer wird in Ehren gehalten. 1976 und 1983 wurde die bröckelnde Fassade erneuert. Deutsche waren oft hier. Der alte Kaiser Wilhelm spendete einen Brunnen und eine Lok. Der Brunnen wird gerade ebenfalls saniert. Die Lok parkt zu Ehren der einstigen deutsch-türkischen Freundschaft am Hafen.

Die Erwartungen sind längst da

Eine Handvoll Lokalpolitiker will diese Freundschaft wieder beleben. Ersin Ugursal und Michael Scharpf für die CDU und Andreas Hofmann für die SPD sind hier auf Delegationsreise. Der Bezirksbeirat Mitte will mit Kadiköy eine Partnerschaft beginnen, von Stadtteil zu Stadtteil. Der Liberale Christian Wulf wollte nachkommen, aber er ist irgendwo zwischen Stuttgart und Istanbul verloren gegangen. Wo und warum weiß niemand.

Das ist die geringste Schwierigkeit zum Beginn dieser Partnerschaft. Im Stuttgarter Rathaus war unerwünscht, dass die Bezirksvorsteherin mitreist, Veronika Kienzle. Jeder Anschein des Offiziellen sollte vermieden, keine Erwartungen sollten geweckt werden. Der Grund ist schlicht: Es gibt kein Geld für freundschaftliche Beziehungen zwischen einem Teil Istanbuls und einem Teil Stuttgarts, keinen Etat. Aber das Protokoll jenes Beirats-Beschlusses ist im Rathaus Kadiköys aufmerksam gelesen worden. Die Erwartungen sind längst da.

Erdogan bewegt das Land in die falsche Richtung

Die Delegation sitzt, verstärkt von ein paar Gästen, im holzgetäfelten Besprechungszimmer von Selami Öztürk, dem Bürgermeister Kadiköys. Nachher wird ein Protokoll des Treffens verfasst und eine Absichtserklärung, die den gegenseitigen Willen zur Zusammenarbeit dokumentiert. Ugursal erzählt, dass Stuttgarts Stadtverwaltung sich unter ihrem neuen Oberbürgermeister Fritz Kuhn noch orientiere. Es könne noch nicht gesagt werden, ob eine Partnerschaft mit Kadiköy erwünscht sei.

Scharpf sagt, dass es andere Möglichkeiten gibt, abseits des Rathauses. Vereine könnten zusammenarbeiten, Sport und Kultur, die Volkshochschule, Universitäten – selbstverständlich. Scharpf ist Professor, und die Kontakte der Universitäten gibt es längst. Gerade sind 150 Studenten zu Gast. Eine Woche lang arbeiten sie in Gruppen. Am Freitag werden die Ergebnisse präsentiert. Danach ist Party, dazwischen auch.

Öztürk sagt, dass die Jugend der Türkei ganz andere Sorgen habe: „Sie muss unsere Demokratie wahren.“ Der Regierungschef Recep Tayyip Erdogan bewege das Land in Richtung Osten, in Richtung Islam. „Und das ist die falsche Richtung.“ Er spricht davon, dass die Gerichte im Land nicht frei sind zu urteilen, wenn Menschenrechte verletzt werden. Der Zustand sei vergleichbar mit der Weimarer Republik. Öztürk spricht mitnichten von der Volkshochschule. Er spricht von Europapolitik – mindestens. Er ist Mitglied der Republikanischen Volkspartei, der Opposition. Außerdem will er nächsten März im liberalen Kadiköy zum vierten Mal für eine vierjährige Amtszeit gewählt werden.

Gemeinsamkeiten zwischen Kadiköy und Stuttgart Mitte

Nun denn, es ist ihm Recht, wenn eine Partnerschaft im Kleinen beginnt. Es sei zum Beispiel viel zu tun im Klimaschutz. Öztürk will Kadiköy zu einer Art Vorzeigegemeinde umbauen in der abgasverpesteten 18-Millionen-Metropole Istanbul. Häuser müssen gedämmt, Solarpaneele installiert, über Windkraft muss nachgedacht werden. Ein Händeschütteln und ein paar Fotos für das Lokalmagazin später ist die Audienz beendet. Danach ist die Delegation zum Essen eingeladen, in die Kantine des Rathauses. Im vergangenen Jahr galt die Einladung noch für ein Sternerestaurant. Ob der kulinarische Abstieg eine Botschaft ist, weiß niemand zu sagen.

Abseits von Geld und Erwartungen ist Kadiköy keine schlechte Wahl, um dem gemeinen Stuttgarter zu verdeutlichen, dass Türke nicht gleich derjenige ist, der Trainingsanzüge für Mode hält oder seine Frau mit Tuch zuhängt. Trainingsanzug trägt hier niemand, es sei denn beim Training. Die weibliche Kleiderwahl pendelt zwischen züchtig mit Kopftuch und aufreizender als nackt. Kadiköy hat durchaus Gemeinsamkeiten mit Stuttgarts Mitte. Es ist ein Akademikerstadtteil. Die Bewohner sind wohlhabend. An der Bagdadstraße, einer Art Königstraße Kadiköys, haben sich Louis Vuitton und Rolex ebenso niedergelassen wie Mercedes und Ferrari. Die Kooperationen zwischen den Unis sind derart gediehen, dass sich ein Völkerverständigungsprogramm anbahnt – aus deutscher Sicht in unerwarteter Richtung: Türken, die in Deutschland studiert haben, soll geholfen werden. Sie haben alle Mühe, im Istanbuler Wirtschaftsleben Jobs zu finden.