Sprachliche und motorische Defizite nehmen bei Kindern zu. Der Leiter des Sozialpädiatrischen Zentrums, Andreas Oberle, rät Familien, verstärkt die Angebote von Vereinen zu nutzen: wie Kinderchor und Kinderturnen. Wichtig sei, dass der Spaß im Vordergrund stehe.

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Stuttgart - Eine Linie zieht sich einige Meter über den Boden des Arztzimmers von Andreas Oberle, dem Ärztlichen Direktor des Sozialpädiatrischen Zentrums (SPZ) des Stuttgarter Olgahospitals. Für gesunde Kinder sollte es kein Problem darstellen, die Linie entlang zu balancieren. Doch zu Andreas Oberle kommen nicht die gesunden, sondern diejenigen Kinder und Jugendlichen, die aus dem Rahmen fallen. Kinder, die motorisch und sprachlich oder vom Verhalten her auffällig sind, die chronische Erkrankungen und Behinderungen haben. Allein im vergangenen Jahr seien 8320 Kinder und Jugendliche vom SPZ behandelt worden, fünf Prozent mehr als im Vorjahr. „Wir haben immer problematischere Kinder, die auch mehr betreut werden müssen“, stellt der Arzt fest, der seit dem Jahreswechsel auch Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin ist. Motorische Defizite und Sprachprobleme nähmen zu, sagt Oberle – zudem sei Adipositas, also krankhafte Fettleibigkeit, ein „Riesenproblem“.

 

Die Erfahrungen passen zu den Ergebnissen der Schuleingangsuntersuchungen des Stuttgarter Gesundheitsamts, derzufolge immer mehr Kinder die genannten Defizite aufweisen. 34 Prozent der Kinder ist 2016 eine professionelle Sprachförderung empfohlen worden (2010 lag der Wert bei 25,8 Prozent), 23 Prozent der untersuchten Vierjährigen schafften es nicht, vier bis fünf Mal auf einem Bein zu hüpfen. Bei den gerade fünf gewordenen waren 28 Prozent auffällig; sie scheiterten daran, sieben Hüpfer jeweils rechts und links zu bewältigen. Tatsächlich aufgrund motorischer Auffälligkeiten zum Arzt geschickt werden laut dem Gesundheitsamt aber weniger als zwei Prozent aller Kinder. Das SPZ wiederum wird nur tätig, wenn der Kinderarzt die interdisziplinäre Expertise als notwendig ansieht und dorthin überweist.

Kommunikationsverhalten wird beim Sport auch trainiert

Am Sozialpädiatrischen Zentrum wird versucht, Hand in Hand mit den Eltern vorzugehen. Wenn ein Kind, das keine optimalen Startbedingungen hatte, auch noch in einem Umfeld aufwachse, das es nicht unterstützen könne, sei das ein zusätzliches Problem, sagt Oberle. Er versucht, positiv auf die Eltern einzuwirken, zum Beispiel mehr Bewegung in die Freizeitaktivitäten einzubauen. Eine seiner Empfehlungen lautet, in Vereine zu gehen, statt immer zuerst an eine verschriebene Therapie zu denken. Entsprechende Hinweise, dass eine Ergotherapie, Logopädie oder Physiotherapie notwendig sei, kommen seiner Erfahrung nach zunehmend zuerst aus Kita und Schule statt vom Kinderarzt. Zu viele Therapien könnten jedoch das Selbstbewusstsein der Kinder beeinträchtigen, meint der Chefarzt und empfiehlt schon mal den Kinderchor statt der Logopädie. Oder eben das Kinderturnen oder den Fußballkurs statt der Physiotherapie. Das Problem, das er allerdings sieht: „Kinder in einem Verein unterzubringen, die motorisch nicht optimal sind, ist schwierig“. Wenn ein Kind, das nicht so geschickt am Ball sei, immer erst beim Fußball eingewechselt werde, wenn es bereits 10 zu 0 stehe, sei das fürs Selbstbewusstsein wenig förderlich. Wichtig sei, dass das Kind Freude habe, dass es in dem Kurs mehr um Teamgeist als um Trophäen gehe. Manchmal könne alternativ zum Fußball auch ein Faschingsverein die Lösung sein. Oder, wenn es den Eltern finanziell möglich ist, Reitstunden. Sport im Verein schätzt Oberle auch deshalb, weil dadurch zeitgleich das Kommunikationsverhalten geschult werde: Auf dem Platz „schwätzen sie auch miteinander“. In immer mehr Familien werde dagegen schlicht zu wenig miteinander gesprochen. Das hat Folgen: Sprach- und Kommunikationsprobleme seien bei ihnen die Hauptdiagnose, sie kommen bei den Kindern am SPZ sogar noch häufiger vor als Bewegungsstörungen.

Körperliche und psychische Traumata

Inzwischen behandelt das SPZ auch vermehrt anerkannte Flüchtlingskinder und minderjährige unbegleitete Flüchtlinge. Die Nachfrage sei deutlich gestiegen, berichtet Oberle. Bei den Kindern lägen häufig nachweisbar körperliche und psychische Traumata vor. Wenn erforderlich, seien professionelle Dolmetscher bei der Untersuchung dabei. Die Flüchtlingskinder wiesen teilweise sehr ungewöhnliche Krankheiten auf, wie sehr seltene Stoffwechselerkrankungen. Eines leide zum Beispiel an Progerie, es sieht als Kleinkind aus wie ein Greis. Ein anderes hat einen unbehandelten offenen Rücken.

Generell findet Oberle es wichtig, wertschätzend mit den Eltern umzugehen – egal welchen Hintergrund und sozialen Status sie haben. Er versucht, ihnen klarzumachen, dass es kein Drama sei, beim Sozialpädiatrischen Zentrum zu sein. „Eine gute Mutter, ein guter Vater lässt sich helfen, wenn er oder sie an Grenzen kommt.“