Wenn sie an der Nähmaschine sitzt, kann sie abschalten. Sabine liebt es, kreativ zu sein und sich dabei völlig zu vergessen. Dann geht es nur um den Augenblick und nicht um ihre chronische Krankheit, die schon zu unzähligen Operationen und lebensbedrohlichen Zustände geführt hat. „Es darf sich nicht alles darum drehen. Das würde mir nicht gut tun.“ Auch mit ihrem Mann, den sie als ihre größte Stütze bezeichnet, hat die Frau aus Korb viele andere Themen. Es kreise nicht alles darum. „Wir haben beide unsere Hobbys, unternehmen viel, kochen, essen und lachen gern.“
Doch es gibt Tage, da schafft Sabine es nicht aus dem Haus und noch nicht einmal hoch zu ihrem „Atelier“ im obersten Stockwerk des charmanten Häuschens aus dem 17. Jahrhundert in Korb. Das sind die Tage, an denen die Krankheit für kurze Zeit die Oberhand gewinnt. Doch es gibt auch viele andere Momente, an denen sie es schafft, relativ normal am Leben teilzunehmen, Spaß zu haben und sich nicht unterkriegen zu lassen. Doch das kostet die Frau aus Korb viel Kraft und Mut – genauso, wie es ihr viel abverlangt, ihre Geschichte zu erzählen. Deshalb will die 55-Jährige, die gebürtig aus dem Rems-Murr-Kreis ist, lieber nicht mit ihrem Nachnamen in der Zeitung stehen.
Was sie dagegen unbedingt möchte, ist es, ihren Leidensweg zu schildern – um zu zeigen, dass es sich lohnt, nicht aufzugeben und um anderen, mit ähnlichem Schicksal, Mut zu machen, vielleicht zu helfen und sie dazu aufzufordern, bei den Ärzten hartnäckig zu sein und sich nicht als Simulant und Hypochonder abstempeln zu lassen. Mehrfach habe sie von Menschen aus ihrem Umfeld und selbst von Ärzten unterstellt bekommen, sich ihre Beschwerden nur auszudenken. Erst viele Jahre nach ihren ersten Symptomen erhielt Sabine die Diagnose Morbus Cushing. Dabei wird im Körper zu viel Kortisol produziert. Schuld ist oft ein Tumor in der Hirnanhangdrüse. Das war auch bei Sabine der Fall, doch bis dies diagnostiziert wurde, hatte die heute 55-Jährige schon einen langen Leidensweg hinter sich.
Eigentlich fing alles an, als Sabine gerade mal 18 Jahre alt war
Aber der Reihe nach: Eigentlich hat alles angefangen, als Sabine gerade mal 18 Jahre alt war. Da bekam sie plötzlich ihre Monatsblutung nicht mehr. „Meine Eltern hatten sich getrennt, zwei Monate später hatte ich keine Periode mehr. Aber keiner hat nachgeforscht, was da los ist. Es könne am Stress liegen, hieß es.“ So wie damals ging es ihr oft. Symptome werden abgetan und nicht hinterfragt. Auch als sie und ihr Ehemann – Sabine heiratete mit 21 Jahren – erfolglos ein Kind wollten und in ein Kinderwunschzentrum mussten, störte sich niemand an der Tatsache, dass sie keine Periode hatte. „Keiner kam auf die Idee, mal wegen meinem Hormonhaushalt nachzuforschen.“ Es sei ein Wunder, dass es ihren Sohn gebe, denn es sei eine Hochrisikoschwangerschaft gewesen. „Aber er kam gesund zur Welt, nur das zählt.“
Doch obwohl sie nun ein Kind hatte, für das sie da sein wollte, fingen die Notfälle an, sich zu häufen: Epigastrische Hernien (eine Art Leistenbruch), Rippenbrüche, Thrombosen, Schlafstörungen und teils unerträgliche Schmerzen. Während sie eine Katastrophe nach der anderen aufzählt, manches nachliest, weil es so viel ist, und dabei gefasst wirkt, hält die Korberin bei der Erwähnung des 6. Januars 2001 dann doch inne. Das war der Tag, an dem sie wegen eines Darmdurchbruchs fast gestorben wäre. „Alles passiert von jetzt auf gleich. Damals hatte ich ohne Vorwarnung Übelkeit und Bauchweh und niemand durfte mich anfassen, weil alles weh tat.“ Seitdem feiert Sabine zwei Mal im Jahr Geburtstag.
Doch wie lebt man damit, dass der Körper immer an Grenzen kommt?
Doch wie lebt man damit, dass der Körper immer wieder an seine Grenzen kommt und man ausgeliefert im OP liegt? „Ich musste lernen loszulassen und mein Leben in die Hände Gottes zu legen.“ Geholfen hat der 55-Jährigen, die trotzdem 30 Jahre als Erzieherin arbeitete, sich Ziele zu setzen. Schulbeginn des Sohnes, Konfirmation, sein Umzug, Erlebnisse mit Freunden und ihrem Mann – das gab Kraft durchzuhalten. Und auch jetzt nutzt sie den Trick noch: „Vielleicht krieg ich irgendwann ein Enkelkind, dafür lohnt es sich durchzuhalten.“ Und das muss sie auch, denn selbst als Morbus Cushing endlich diagnostiziert und ein Adenom – ein gutartiger Tumor – an der Hirnanhangdrüse operiert wurde, blieb der Erfolg aus. Ihr Körper produzierte weiterhin zu viel Cortisol, was Muskeln, Knochen und Bindegewebe schädigt und zu den zusammenhanglosen Symptomen führt. Die Enttäuschung war groß, denn Sabine hatte große Angst, als sie dem Eingriff durch die Nase schließlich zustimmte.
Der nächste Behandlungsvorschlag lautete Strahlentherapie
Der nächste Behandlungsvorschlag lautete Strahlentherapie. „Doch erst zehn Jahre später konnte ich mich überwinden und fand einen Spezialisten in Göppingen.“ Dort empfahl man ihr eine Selbsthilfegruppe und eine Endokrinologin, zu der sie heute noch gehe. „Ich ließ die Bestrahlung dort über mich ergehen und sie schlug auch an, aber so, dass mein Körper seitdem gar kein Cortisol mehr produziert.“ Sabine muss es seither medikamentös zuführen, denn wenn ihr Körper ins Minus gerät, was schon geschehen ist, könne es passieren, dass sie ins Koma falle. Deshalb hat sie immer ein Notfallmedikament und einen Ausweis dabei. Den hat sie so genäht, dass sie ihn, wenn sie Auto fährt, am Gurt befestigen kann. Und Auto fährt sie oft, denn Sabine ist weder eine, die viel jammert, noch eine, die den Kopf in den Sand steckt. Wenn sie mit ihrem Mann nicht gerade das Haus renoviert, reisen die beiden und entdecken Deutschland. Ein Besuch beim Sohn in Berlin muss dann natürlich sein.