Stuttgart - Die besessen Eifersüchtigen, die brutal Kontrollwütigen, die von Minderwertigkeitsgefühlen Zerfressenen, die Paranoiker im Netzwerk vermeintlicher Intrigen und viele andere wahngerüttelte Gestalten – sie alle machen Gerichtsprozesse kompliziert, wenn sie erst einmal richtig ausgerastet sind. Wo verläuft die Grenze zwischen schuldhaftem Vorsatz und purer Krankheit? Wir wissen das oft nicht zu sagen. Aber wir sind uns einer anderen Grenzlinie meist sicher: der zwischen diesen anderen, die eine Besessenheit erfasst, und uns, die wir vernünftige, moralisch handelnde, von Empathie und Selbstkritik gezügelte Wesen sind. Das ist jene Selbstgewissheit, die Patricia Highsmith zerbröselt hat.
Nachvollziehbare Typen
Die Thrillerautorin, die am 19. Januar vor 100 Jahren in Fort Worth, Texas, zur Welt gekommen war, hat von ganz normalen Leuten erzählt, keinen besonderen, hübschen, reichen, talentierten oder exzentrischen. Angenehm vorstellbare Menschen sind das, denen wir in Romanen wie „Das Zittern des Fälschers“, „Der Stümper“, „Der Schrei der Eule“ ein wenig in den Kopf schauen können, Leute mit kleinen Macken und Schrullen, aber ohne abschreckende psychische Deformation. Wir nehmen Teil an ihrem Alltag, an ihren kleinen Hoffnungen und Bestrebungen, an ihren Zurücksetzungen und Niederlagen, an ihren Verhedderungen in Widrigkeiten und nachvollziehbaren Befreiungsbewegungen.
Von diesen Typen erzählt Highsmith mit einer stringenten Kühle, gegen die wir sie fast schon in Schutz nehmen wollen. Wir dürfen in Distanz bleiben, also rücken wir furchtlos näher heran und nicken zufrieden ab: Ja, alles was diese Figuren tun, ist nachvollziehbar, beim Werben um einen anderen Menschen etwa, beim Abblocken eines übergriffigen Rivalen.
Durchs Eis gebrochen
So würden wir auch handeln, sind wir uns gewiss. Bis dann jener Moment kommt, den der Schlafwandler auf einem nicht mehr fest zugefrorenen See erleben muss. Wir brechen ein in eiskaltes Wasser, wachen auf, fragen uns in jähem Schock, wie es so weit kommen konnte. Die Hauptfigur des Romans ist als Psychopath offenbar geworden. Auf diesen Trick fällt man immer wieder herein, auch wenn man Bücher von Highsmith kennt, auch wenn ein Werk mit dem Titel „Der süße Wahn“ warnt, was kommen wird.
Wir müssen hier lernen, wie normal uns abartiges Verhalten vorkommt, weil es keinen Grenzbaum und kein Passkontrollhäuschen zwischen dem Gesunden und dem Fiebrigen gibt. Schritt für Schritt kommen wir vom Weg ab, immer überzeugt, die volle Orientierung zu haben.
Früchte des Leichenbeseitigens
In ihren berühmtesten Werken, den Romanen um den Betrüger, Hochstapler und Mörder Tom Ripley, wählt Highsmith allerdings eine andere Methode. Ripley ist keiner, mit dem wir zunächst sympathisieren, um dann entsetzt vor ihm und unserem Spiegelbild zurückzuweichen. Dieser kleine Trickbetrüger ist zu Beginn von „Der talentierte Mr. Ripley“ ein unsäglicher Schmierlappen, ein charakterloser Abzocker, ein verlogenes Wiesel und heuchelnder Opportunist. Es macht Spaß, ihn zu verachten. Und dann umarmen wir ihn in voller Kenntnis seiner miesen Seiten. In Perversion des Leistungsprinzips beginnt man zu glauben, dieser Mann, der etwa mit Leichenbeseitigen solche Mühe hatte, müsse nun auch die Früchte seiner Anstrengungen genießen dürfen.
Der Mensch Highsmith war schwierig: mürrisch, von verletzender Ehrlichkeit, habituell misstrauisch. Gemeinhin wird sie als Menschenfeindin charakterisiert, und seit ihrem Tod 1995 hat das Interesse an ihrer Biografie stark zugenommen. Man spürt nun möglichen Schnittstellen zwischen Leben und Werk nach. Diese lesbische Autorin, die in strikt bigotten Zeiten unter Pseudonym den spät verfilmten Roman „Carol“ über Frauenliebe schrieb, hat ja auch fraglos allerhand eigene Frustrationen in Geschichten verpackt. Aber autobiografische Bezüge sind hier trotzdem mustergültig schnuppe. Mit raffiniert klarer und einfacher Sprache hält Highsmith – von ein paar Spätwerken abgesehen – auktoriale Urteile und Maßstäbe aus ihren Romanen und Storys heraus. Sie setzt nichts voraus, nimmt keine Grenze für gegeben, legt keine Richtschnüre aus. Hier gilt nur das, was die Figuren tun und was sie antreibt, höhere Prinzipien sind Illusion. Highsmiths Romane zeigen Menschen, die Gesetze, Regeln und Maßstäbe nicht im Ansatz verinnerlicht haben, die skrupelfrei nach ihren Bedürfnissen, Lüsten und Interessen handeln.
Das Böse regiert
Hier regiere, haben manche befunden, das pure Böse. Aber dessen Machtübernahme verläuft so schallgedämpft, dass man sich als Leser nie mit dem Tadeln von Effekthascherei davonstehlen kann. Unter anderem Alfred Hitchcock, Claude Chabrol, Wim Wenders und Anthony Minghella haben Romane von Highsmith gut verfilmt, aber so ganz hat keiner deren Schwindligmachen in einer Welt ohne moralische Perspektiven kopieren können. Diese Bücher muss man nicht entstauben, ihre Provokation bleibt relevant. Wer schützt uns eigentlich vor unseren Mitmenschen und wer die Mitmenschen vor uns, fragt Highsmith. Gewiss kein innerer Kompass, gibt sie als Antwort. Und wer das für eine kleine Aussage hält, sollte einfach mal einen ihrer Romane lesen, um das Fürchten vor sich selbst zu lernen.
Kurzinfo
Elternhaus:
Kurz nach der Geburt von Patricia Highsmith am 19. Januar 1921 ließen sich ihre leiblichen Eltern scheiden. Nestwärme genoss danach keine Priorität, als die 12-jährige Patricia für ein Jahr zur Großmutter ziehen sollte, empfand sie das als Verstoßenwerden. Die Mutter gestand ihr einmal, eigentlich habe sie versucht, sie durch das Trinken von Terpentin abzutreiben.
Karriere
: Als Krimiautorin konnte man in den Fünfzigern schnell in der Bedeutungslosigkeit versacken. Highsmiths erster Roman, „Fremde im Zug“, 1950 erschienen, wurde gleich im Jahr darauf von Alfred Hitchcock verfilmt, was viel Aufmerksamkeit erregte. Highsmiths Werk hat mit dazu beigetragen, die Grenze zwischen Literatur und Krimi in vielen Köpfen zu schleifen.
Werke:
Auf Deutsch liegen die Romane und Erzählungen Highsmiths in Neuübersetzung bei Diogenes vor.