Patti Smith lässt bei ihrem famosen Auftritt auf der Freilichtbühne am Killesberg die Musikgeschichte Revue passieren. Sie nimmt die Zuhörer auf eine Reise von ihren Punkrock-Anfängen bis an die Schwelle zur Hochkultur. Und rotzt dabei auf die Bühne.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

Stuttgart - Ganz am Ende des Abends macht Patti Smith dem Ruf, der sie umweht, dann doch noch alle Ehre. Die „Gottesmutter des Punk“ gibt – was bei ihr nicht selbstverständlich ist – eine Zugabe, „People who died“ heißt das zweite Stück, gewidmet ihrem einstigen New Yorker Weggefährten Jim Carroll. Es scheppert und rumpelt gehörig, Patti Smith hat eine E-Gitarre gereicht bekommen und beginnt nun, gemächlich alle Saiten vom Instrument herunterzureißen. Und das ist sie dann ja wohl, die Geste, die symbolisieren soll, was zuvor im Kultur-Tagestipp einer bekannten Boulevardzeitung wie folgt angekündigt war: „Patti Smith and her Band performen auf der Freilichtbühne Killesberg Rock’n’Roll und Punkrock“.

 

Punkrock – das ist ein großes Wort, das eigentlich Werk und Wirken der 67-jährigen amerikanischen Künstlerin seit schätzungsweise drei Dekaden nicht mehr gerecht wird. Die vielfach, unter anderem mit dem Polar Music Prize und dem amerikanischen National Book Award ausgezeichnete Songwriterin, Fotografin, Malerin und Lyrikerin ist längst an der vorletzten Schwelle vor der Himmelspforte zur Hochkultur angekommen, Respekt schlägt ihr für ihre poetische Kraft ebenso entgegen wie für die Ausdrucksvielfalt.

Aber so ganz kann die einstige Fabrikarbeiterin, die Stücke mit so bezaubernden Titeln wie „Rock’n’Roll Nigger“ oder das auch in Stuttgart gespielte „Pissing in a River“ im Programm hat, dann doch nicht ihren Wurzeln entkommen. Munter und in hohem Bogen rotzt sie zum Beispiel bei ihrem Auftritt am Dienstagabend mehrfach auf die Bühne; das ist ein hübscher Bruch mit den Konventionen, eine hohnlächelnde Geste gegenüber den Erwartungshaltungen, und es verleiht ihr eine jenseits des durchaus auch gegebenen hohen Kunstanspruchs eine zwar nicht allzu damenhafte, aber sehr menschliche Seite.

Sie kann auch ganz anders

Andererseits: nett kann die Frau aus Chicago auch sein, der man das punkige Attribut angeheftet hat. Sie reißt Scherzchen („Thank you, good Night“, kräht sie nach dem Eröffnungssong „Redondo Beach“ ins Publikum, und einem mehr Lautstärke einfordernden Gast ruft sie „da musst du zu Black Sabbath gehen“ entgegen). Sie baut liebevoll mehrfach das Wort Stuttgart in einen ihrer Songs ein. Sie trinkt auf der Bühne ihr Tässchen Tee, sie nutzt die Instrumentaleinlage ihrer vierköpfigen Band, um im Bühnengraben Konversation mit den Besuchern zu treiben und Selfies verfertigen zu lassen. Sie gratuliert ihrem Sohn zum Geburtstag und widmet seinem Dad den folgenden Song, sie nutzt das Konzertende für einen warmherzigen Appell zur Weltverbesserung. Überhaupt strahlt eine Menge esoterischer Religiosität aus der Frau, die zwar einerseits schon die Verse „Jesus died for somebody’s Sins, but not mine“ geschmettert hat, aber andererseits auch schon beim Papst zu Besuch war – und die in Stuttgart neben einem Jackett tatsächlich auch ein hölzernes Kreuz an ihrer Halskette trägt.

Aber sie buchstabiert ja auch ein G-L-O-R-I-A in die Killesberger Luft, ehe sie zum gleichnamigen Song anhebt, den Van Morrisons Band Them vor exakt fünfzig Jahren veröffentlicht hat – und der Patti Smiths vor knapp vierzig Jahren erschienenes Debütalbum „Horses“ eröffnet. Womit der erste bemerkenswerte Moment dieses sehr schönen Konzerts genannt wäre. Was Patti Smith in ziemlich genau neunzig Minuten bietet, ist nämlich ein echter Querschnitt durch ihr Schaffen.

Lieder aus fast allen ihren Alben gibt es im bei dieser Tournee allabendlich neu zusammengestellten Programm zu hören. Von ihrem einzigen großen Hit „Because the Night“ vom Album „Easter“ (geschrieben gemeinsam mit Bruce Springsteen, der bekanntlich Lichtjahre vom Punk entfernt ist) über ihren zweiten kleineren Hit „Dancing Barefoot“ vom Album „Wave“ bis hin zu den Stücken ihres bis dato letzten, wunderbaren, vor zwei Jahren erschienenen Konzeptwerks „Banga“. Das aktuelle Album steht jedoch keinesfalls im Mittelpunkt, und auch die anderthalb Hits werden nicht exponiert zur Schau gestellt, sondern beiläufig eingestreut.

Songs aus allen Schaffensphasen

Vier Dekaden Musikgeschichte lässt Patti Smith vom Beifall umrauscht an den 3500 Besuchern mehrheitlich reiferen Alters vorbeiziehen. Tolle Stücke, die im herrlichen Ambiente der Freilichtbühne in verblüffend guter Klangqualität daherkommen. Sie beglaubigen eine große künstlerische Karriere, eine vielschichtige obendrein. Patti Smith greift zwischenzeitlich für sanfte Akkorde zur Akustikgitarre, sie und ihre Begleiter – unter ihnen übrigens auch Lenny Kaye, der schon 1974 mit ihr zusammenspielte – können aber auch ganz anders und demonstrieren dies auf dem Killesberg in den rockigen Passagen und sogar in einer Art Reggae-Einlage.

Angenehm unprätentiös bietet sie ihr Konzert dem Publikum dar, beeindruckend sind die Souveränität und Gelassenheit, die sie scheinbar sehr in sich selbst ruhend ausstrahlt. Ausgesprochen lebensbejahend und vital wirkt die Frau mit dem herben Charme obendrein, die in einem Alter, in dem andere nach 45 Beitragsjahren längst an den Ruhestand denken, nach wie vor auf Tournee ist. Und das gewiss nicht aus finanziellen Gründen.

Denn Ikone – das ist auch ein großes Wort. Aber für das, was Patti Smith für Pop, Poesie, Protestbewegungen und unserethalben auch Punkrock geleistet hat, hat sie sich diesen Titel tatsächlich redlich verdient. Nicht zuletzt der feine Abend auf der Freilichtbühne hat dies mal wieder gezeigt.