Wie das Leben so spielt: Marianne Faithfull und Patti Smith, zwei gefeierte, aber höchst gegensätzliche Ikonen der Popmusik, werden 70 Jahre alt – und das fast am gleichen Tag.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

Stuttgart - Schon genetisch hat Marianne Faithfull extraordinäre Startvoraussetzungen mitbekommen: Sie kam als Tochter eines Universitätsprofessors und Geheimdienstmajors der britischen Armee sowie der Freifrau Eva-Hermine von Sacher-Masoch, einer Großnichte des schaurig-berühmten Schriftstellers Leopold von Sacher-Masoch, in London zur Welt. Das war am 29. Dezember 1946. Von der psychologischen Kriegsführung bis zur „Venus im Pelz“ waren da gleich ein paar Ingredienzen dabei, die im übertragenen Sinne später in ihr künstlerisches Wirken Eingang finden sollten.

 

Was dann noch hinzukam, das war und ist fulminant. Bereits in jungen Jahren war die Britin auch in den USA ein Popstar, insgesamt elf Studioalben und unzählige Singles hat sie aufgenommen, in rund zwei Dutzend Kinofilmen und zahlreichen Theaterrollen gespielt. Mit Metallica, Van Morrison, Patrick Wolf, Pulp sowie vielen anderen großen Musikern arbeitete sie im Tonstudio zusammen, mit Jude Law, Anthony Hopkins, Kirsten Dunst oder zuletzt Milla Jovovich stand sie vor der Filmkamera. Für die Rolling Stones schrieb sie 1969 „Sister Morphine“ und blickte mit dem Song quasi in die Zukunft ihrer eigenen jahrzehntelangen Heroinabhängigkeit, die sie erst 1985 überwand. Mit Mick Jagger teilte sie das Bett, und um ihr Verhältnis zu Jim Morrison im Allgemeinen und ihre Rolle in seiner Todesnacht im Speziellen ranken sich – dem ausführlichen Dementi in ihrer Autobiografie zum Trotz – so viele Mutmaßungen, dass eine ganze Zeitungsseite zu ihrer Schilderung nicht langen würde.

Vergleichsweise karg lesen sich da die ersten Lebensjahre der Patti Smith, die am 30. Dezember 1946 in Chicago als Tochter einer Kellnerin und eines Fabrikarbeiters geboren wurde. Direkt nach dem Highschoolabschluss landete sie ebenfalls als Arbeiterin in der Fabrik, kurz darauf wurde sie schwanger und gab ihre Tochter zur Adoption frei. Nach einer kurzen Stippvisite am College zog sie nach Manhattan, wo sie in einer Buchhandlung arbeitete und mit ihrem Gefährten Robert Mapplethorpe in auch nicht gerade rosigsten Verhältnissen lebte. Patti Smith verdingte sich gewissermaßen auch weiterhin noch eine ganze Zeit, aber auf bemerkenswertem Niveau. Den späteren Starfotografen Mapplethorpe inspirierte sie künstlerisch, eine ähnliche Symbiose ging sie mit dem Dramatiker und späteren Großregisseur Sam Shepard ein, ehe 1975 ihr von John Cale produziertes Debütalbum „Horses“ erschien.

Auszeiten bei der einen wie der anderen

Im legendären Chelsea Hotel wohnte sie, im ebenso legendären Club CBGB’s ging sie ein und aus. Es waren Freunde wie Michael Stipe von R.E.M., Allen Ginsberg oder Bob Dylan, ohne die ihre musikalische Karriere ganz anders verlaufen wäre und ohne die Patti Smith, die sich zeitlebens als „Lyrikerin, die nebenher Musik macht“ bezeichnet hat, vielleicht nicht auf ein so glänzendes Oeuvre elf Alben, zwanzig Büchern sowie einen ihr nicht gänzlich zu Unrecht angedichteten Mythos als „Godmother of Punk“ zurückblicken könnte.

Doch die amerikanische Lyrikerin und Musikerin und die britische Musikerin und Schauspielerin eint nicht nur die gleiche Anzahl von Albumveröffentlichungen. Beide haben diese Einspielungen auf eine lange Zeitspanne von bald vier (Smith) beziehungsweise fünf (Faithfull) Dekaden verteilt, beide gönnten sich längere Auszeiten – Smith in ausufernder Elternzeit am Ufer des St. Clair-Sees in Michigan, Faithfull heroinbedingt teils buchstäblich in der Gosse im Londoner Stadtteil Soho. Bei beiden schreckt man davor zurück, die zahlreichen Unterstützungsleistungen prominenter männlicher Musikerkollegen als Gefälligkeiten zu bezeichnen. Und vor allem mag man sie beide angesichts ihrer hohen eigenen künstlerischen Integrität nicht als Musen von Mapplethorpe, Jagger oder wem auch immer bezeichnen.

Beide Künstlerinnen sind längst zu Elder Stateswomen in einem nach wie vor überaus maskulin dominierten Unterhaltungsmusikgeschäft gereift. Wer die beiden hierzulande schon mal live erleben durfte – Faithfull zuletzt 2014 in der Stuttgarter Liederhalle, Smith im selben Jahr nur zwei Monate später auf der Freilichtbühne am Killesberg bei ihrem ersten Gastspiel in Stuttgart überhaupt –, der sah und hörte zwei sehr dominante, prägende Performerinnen. Mit dem feinen Unterschied freilich der sehr soigniert-distinguiert auftretenden blaublütigen Faithfull im eleganten Kostümjäckchen hier und der nach wie vor auf den Bühnenboden rotzenden Working-Class-Heldin Smith im ausgewaschenen T-Shirt dort.

Beide suchen die Nähe zu den schönen Künsten

Für ihren Ikonenstatus stehen nicht zuletzt die unzähligen Querverweise und Kollaborationen, auf die sowohl Patti Smith als auch Marianne Faithfull zurückblicken dürfen. Madonna, Courtney Love und Shirley Manson nennen Smith als ihr großes Idol, The Smiths – mit ihr weder verwandt noch verschwägert – haben ein Lied von ihr abgekupfert, KT Tunstall, die Waterboys und die Go-Betweens haben ihr eigene Stücke gewidmet, Sonic Youth sogar ein ganzes Album nach ihr benannt; umgekehrt hat sie nur selten mit anderen Branchengrößen zusammengearbeitet, etwa beim Solodebüt des Chili-Peppers-Bassisten Flea. Bei Faithfull ist es gerade umgekehrt, die Sängerin liebt die Wilderei in fremdem Repertoire ebenso wie Gastauftritte in illustren Kreisen – man höre nach auf dem Amnesty-International-Sampler „Chimes of Freedom“, dem Gainsbourgh-Revisited-Projekt (im Duett mit Sly & Robbie!) oder Roger Waters’ Liveeinspielung von „The Wall“.

Beide suchen die Nähe zu den schönen Künsten und leben sie aus. Als zartbesaitete Elfen werden die Tochter einer Zeugin Jehovas und die frühere Klosterschülerin dereinst allerdings gewiss nicht in die Popgeschichte eingehen. Weder die im wahrsten Sinne des Wortes rotzige Punkpoetin, die live noch immer gern kein bisschen zart die Saiten vom Gitarrengriffbrett reißt. Noch die Edeldame mit der drogengegerbten Stimme, die tatsächlich den Titel Baronin von Sacher-Masoch führen dürfte (seit sie ihn 2009 ererbt hat), darauf aber getrost pfeift. Lieber nimmt sie für sich das Privileg in Anspruch, im ersten Film überhaupt mitgespielt zu haben, in dem das Wort „Fuck“ verwendet wurde („I’ll Never Forget What’s ‘Is Name“, 1967).

Ans Aufhören denken sie noch lange nicht

Überhaupt, von Faithfulls in jeder Hinsicht handwerklicher Meisterleistung als Hauptdarstellerin in „Irina Palm“, dem Berlinale-Hit von 2007, müsste man ebenso noch erzählen wie von Patti Smiths spannendem, multimedialem Projekt „The Coral Sea“ mit Kevin Shields von My Bloody Valentine. Die Lebensläufe dieser beiden Ausnahmekünstlerinnen lesen sich abenteuerlich – aber das haben sie ja längst alles auch schon selbst in ihren Autobiografien geschildert.

Gesendet seien hier also die besten Glückwünsche. Wie Marianne Faithfull ihren runden Geburtstag an diesem Donnerstag zu begehen gedenkt, ist allerdings nicht bekannt – zuletzt trat sie vor einem Monat bei den Wiedereröffnungskonzerten im Pariser Club Bataclan auf. Ein Livealbum zur Feier ihres fünfzigjährigen Bühnenjubiläums hat sie im September veröffentlicht, ein neues Album will sie in rund einem Jahr auf den Markt bringen. Patti Smith hingegen stand zuletzt vor gut zwei Wochen bei der Nobelpreisverleihung in Stockholm als Vertreterin von Bob Dylan im Rampenlicht. Ihren Geburtstag am Freitag begeht sie, wie es sich für eine Musikerin gehört, mit einem Konzert in ihrer Geburtsstadt Chicago, ehe sie im April zu einer Australientournee aufbricht. Nach baldigem Ruhestand klingt das nicht – weder im einen noch im anderen Fall.