Wurde die Kritik des Landesdenkmalsamtes an der geplanten Verstümmelung des Stuttgarter Hauptbahnhofs beamtenrechtlich ausgeschaltet?  

Tübingen - Die Architektur von Paul Bonatz (1877–1959), dem Erbauer des Stuttgarter Hauptbahnhofs, weist einen eigenständigen Weg in die Moderne: Tradition wird nicht einfach verworfen, sondern in eigene Formen umgeschmolzen. Daher stieß die fundierte Übersicht seines Gesamtwerks, die jüngst das Architekturmuseum in Frankfurt am Main ausstellte, bei Fachwelt und Publikum auf reges Interesse.

 

Jetzt ist die reich bestückte Schau über Bonatz’ „Leben und Bauen zwischen Neckar und Bosporus“ nach Tübingen gewandert, wo Bonatz auch wegen des von ihm entworfenen harmonisch-beschwingten Lesesaals der Unibibliothek ein Begriff ist. Hier würdigt man nicht nur den Architektenstar von einst. Man diskutiert, was den Stuttgarter Bahnhof zu einem bewahrenswerten Baudenkmal macht. Und man beleuchtet, wie die Politik für Stuttgart 21 mit der Denkmalspflege umging.

Bei Neu- oder Umbauten wird oft Altes beschädigt; es gefällt nicht mehr. Vor dreihundert Jahren zogen die Freunde des Fortschritts in alte gotische Kirchenschiffe barocke Gewölbe ein. Die Enkel hätten viel lieber wieder das kaputtgemachte Original gehabt. Auch der Stuttgarter Hauptbahnhof, vor hundert Jahren geplant, entspricht heutigem Zeitgeschmack nur bedingt.

Der Hauptbahnhof als "Nabel Schwabens"

Wer an luftig-grazile Glasbauten gewohnt ist, dem ist seine natursteinerne Monumentalität zu viel. Die Kunsthistoriker Christian von Holst und Klaus Jan Philipp nennen sie gar faschistoid, obwohl die Bauzeit zwei Jahrzehnte vor den NS-Planungen liegt: 1911 der Wettbewerb, 1914 Baubeginn.

Erinnert man sich aber an den Deutschen Werkbund oder an Peter Behrens’ Bauten, erkennt man die gemeinsamen, dem Historismus widersprechenden Qualitäten: die monumentale Geste erwächst aus strenger Reduktion der Form und handwerklicher Materialgerechtigkeit. Bonatz verbindet beides mit moderner Asymmetrie, gestaffelten Baukörpern und hervorragender Funktionalität.

Die Monumentalität aber will den Einzelnen gerade nicht kleinmachen, sonst hätte Bonatz so etwas wie mannshohe Säulenbasen eingesetzt. Sie huldigte nicht einem Regime, sondern dem modernen Verkehr: der Zugang zur staatlichen Eisenbahn übertraf – vor der Ära des Autos – die Wichtigkeit jedes Stadttors. Im Bahnhof begann die pulsierende Verbindung zur Welt, er sollte, so Bonatz, „der Nabel Schwabens“ sein.

Fachliche Einwendungen gegen Stuttgart 21 nicht ernst genommen

Damit Unkundige nicht vorschnell Kulturgüter zerstören, gibt es das Landesdenkmalamt. Warum war in Sachen Bahnhofsverstümmelung nichts von ihm zu hören? Der ehemalige Oberkonservator Norbert Bongartz, jetzt im Ruhestand, hat eine Antwort: die Denkmalpfleger hätten sich sehr wohl gerührt. Ausführliche Gutachten hätten schon früh begründet, warum der Bahnhof als historisch bedeutendes Kulturdenkmal erhalten werden müsse. Und zwar mitsamt den rhythmisch gegliederten Seitenflügeln.

Vom Hauptwerk Stuttgarter Schule zum funktionslosen Torso

Doch ist das Landesdenkmalamt in Baden-Württemberg keine eigene Behörde mehr, sondern seit 2005 – wie übrigens auch die Fachleute für Geologie – den Regierungspräsidien unterstellt. Daher hätte es, daran hat Bongartz anlässlich der Ausstellungseröffnung in Tübingen erinnert, seinen Protest ohne Erlaubnis des Dienstherrn nicht öffentlich machen dürfen. Der Regierungspräsident aber hieß bis 2007 Udo Andriof. Der war nicht gewillt, fachliche Einwendungen gegen Stuttgart 21 ernst zu nehmen. Inzwischen ist Andriof einer der beiden Sprecher des Projekts.

Wenn sonst Denkmalschutz und ein neues Bauanliegen einander widersprechende öffentliche Interessen vertreten, sucht man, so ist Bongartz’ Erfahrung, in öffentlicher Diskussion gemeinsam eine Güterabwägung. Hier aber habe Andriof den Dialog mit den Fachleuten des eigenen Hauses abgebrochen.

"Unwürdig einer Kulturnation"

Als Joker hätte ihm gedient, dass die Planungen der Bahn auf einer Betriebsanlage des Bundes nicht den Landesgesetzen unterworfen sind. Die Denkmalpfleger waren nach diesem Zeugnis nicht stumm: sie waren durch Beamtenrecht geknebelt.

Zudem sei die Kritik der Denkmalpfleger aus dem Planfeststellungsverfahren seines Wissens, so Bongartz, den Unterlagen für den Wettbewerb nicht wie sonst üblich beigefügt worden. Also seien die Architekten bei ihrer Planung davon ausgegangen, hier gebe es nichts zu schützen. Die Fachleute habe man damals, während die Zerstörung der Gesamtanlage geplant wurde, gerade mal gefragt, welche Größe von Werbesprüchen und Verkaufsständen die Bahnhofshalle allenfalls noch ertrüge. Und am Ende war der Abrissbagger da.

So brachten Politik und Regierungspräsidium in Stuttgart es fertig, das Hauptwerk der Stuttgarter Schule, das internationale Nachfolgebauten gefunden hatte, ohne öffentliche Diskussion zum funktionslosen Torso zu machen. „Blamabel“, meint Bongartz, „unwürdig einer Kulturnation.“

Boantz' Bahnhof bietet weiteren Gesprächsstoff

Ausstellung

Paul Bonatz 1877–1956. Leben und Bauen zwischen Neckar und Bosporus. Bis 22. Mai, täglich außer Mo 11 bis 18 Uhr, Di bis 19 Uhr.

Diskussion

Die Bedeutung des Bonatz-Bahnhofs in der Architekturgeschichte und der Umgang der Politik mit dem Baudenkmal beschäftigt auch das Begleitprogramm. Am 9. April unterhalten sich Norbert Bongartz und der Architekturkritiker Dieter Bartetzko über das Thema: „Zum Schweigen der Denkmalpflege beim Projekt Stuttgart 21“. Am 11. Mai fragt der Tübinger OB Boris Palmer: „Was passiert mit Bonatz‘ Bahnhof?“.

Am 14. Mai spricht der Architekt Meinhard von Gerkan über über seine Erfahrungen beim Stuttgarter Wettbewerb. – Bereits am heutigen Samstag erläutert Peter Conradi, Architekt und ehemals MdB, den Streit unter dem Titel „Stuttgart 21 oder Kopfbahnhof 21“? (Beginn 16Uhr).

Weitere Termine

www.kunsthalle-tuebingen.de