Bert Brecht und Kurt Weills „Die sieben Todsünden“ von 1933? Kapitalismuskritik? Alte Kamellen? Neben allen drei Sparten des Stuttgarter Staatstheaters kommt die fabelhafte Performerin Peaches ins Spiel – und sorgt zusammen mit dem Ensemble für einen denkwürdigen Abend im Schauspielhaus.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Wie die Zigarre nie nur eine Zigarre gewesen ist, sondern immer auch Zurschaustellung seiner erheblichen Mannmacke, war auch Bertolt Brechts inniges Verhältnis zum Boxring Teil der Selbstinszenierung. Für „Die Ausnahme und die Regel“, eins seiner eher schlechten Lehrstücke über kolonialistische Praktiken, führte er sogar auf der Szene den Gong ein. Zwischen den Schlägen ließ er die Darsteller los, um dem Publikum die Pädagogik mit verbalen Jabs und Uppercuts in die Köpfe zu hämmern: „Was die Regel ist, das erkennt als Missbrauch! Und wo ihr den Missbrauch erkannt habt, da schafft Abhilfe!“

 

Bei den „Sieben Todsünden“ drei Jahre später, der letzten Zusammenarbeit mit dem Komponisten Kurt Weill – 1933 in Paris in der Choreografie von Georges Balanchine uraufgeführt – hatte Brecht endgültig den entscheidenden Gegner ausgemacht: den Kapitalismus inklusive patriarchalischer Praktiken, die er selber intensiv handhabte. Allerdings schaute er, wie das seine Art sein konnte, recht distanziert auf seine Protagonistin Anna, die sich als Geldbeschafferin für die Familie versündigt an der Religion des Erfolgszwangs.

Kampf im Ring

In der Kurzoper „Die sieben Todsünden“, hauptsächlich englisch, aber auch deutsch gesungen, stellen sich für die Stuttgarter Drei-Sparten-Produktion die Regisseurin Anna-Sophie Mahler, die Co-Regisseurin Peaches und die Dramaturgin Katinka Deecke im Schauspielhaus dem Dichter offen dort, wo er sich gerne sah – im Kampf auf der Bühne und im Ring. Und sie schalten, im programmatischen Geleitartikel „Zum Abend“, den zu lesen lohnt, auf kontrollierte Offensive: Nicht zufällig, heißt es, sei im letzten Jahr das Buch „Sieben Nächte“ von Simon Strauß erschienen, Theaterkritiker der FAZ, dreißig Jahre alt und Sohn von Botho Strauß, dem schillerndsten deutschen Dramatiker der letzten Jahrzehnte. Strauß Junior sucht darin nach den großen Gefühlen und Helden, am Ende gar nach einem Mann, der ihn „führen“ könne – ein mindestens befremdliches Retro-Denken. Auch deswegen krame man nochmal „die alten Kamellen von Brecht und Weill hervor“, die dann eben doch so alt nicht seien.

Ganz nach Vorlage freilich geht es nicht zu, denn Anna-Sophie Mahler und die kanadische Electro-Punk-Sängerin Peaches, die Performerin im dritten Teil des Abends, haben die bei Brecht/Weill freudianisch aufgespaltene Anna-Rolle auf vier Darsteller verteilt: Peaches singt, Josephine Köhler (vom Schauspiel) fightet, tanzt und redet, Louis Stiens (vom Ballett) choreografiert, singt und tanzt und Melinda Witham (wiederum Ballett) schweigt zunächst, bevor sie sich einmalig, aber unvergesslich in Bewegung setzt. Alle Protagonisten sind vom Darstellertum weit entfernt, vielmehr haben ihre hoch intelligent eroberten Rollen von ihnen Besitz genommen. Man sieht das selten in dieser Intensität.

Die Verhältnisse, wie sind sie denn?

Kernszene der ersten halben Stunde ist ein brillant arrangierter Kampf, den die wie Peaches geschminkte Köhler gegen Stiens, aber auch gegen sich selbst führen muss. Anna, die Frau, die anschaffen soll für ihre Familie, hier ein Männerquartett in Kampfrichtermontur, hat bei Brecht/Weill noch keine Möglichkeit, zu entkommen. Denn die Verhältnisse, sie sind nicht so.

Peaches singt ihren Part, den ihr von Lotte Lenya bis Marianne Faithfull so viele Frauen vorgezeichnet haben, geradeaus, ohne Fehl, aber mit großer Distanz. Dabei entwickelt das Staatsorchester unter Stefan Schreiber mit Fleiß und Lässigkeit zugleich den fast süchtig machenden Weill-Ton mit gedämpftem Blech, weich schrappendem Banjo und richtigem Sinn fürs Timing. Schreiber muss nicht auftrumpfen und tut es nicht. Grundsätzlich hat diese Produktion etwas sympathisch Angstfreies und pfeift auf historische Vorbilder: Mag Pina Bausch die „Sieben Todsünden“ vertanzt oder Barrie Kosky sie mit einer einzigen, schizoiden Frau (Dagmar Manzel) besetzt haben. In Stuttgart haben sie ihren eigenen Kopf. Halsüber setzen sie ihn ein.

Die Brücke zu Peaches

Fünfunddreißig Minuten „Todsünden“ langen nicht für einen Theaterabend. Wenn man bedenkt, was von der Bach-Kantate an als Ergänzung zu Brecht/Weills Stück oft eher holzschnittartig beigegeben wurde, dann erweist sich der zum reinen Peaches-Teil überleitende Text der Feministin Virginie Despentes („Baises moi“) als Gewinn: Josephine Köhler rezitiert Teile aus „King Kong Theorie“, einem Essay von 2006, der von einer „Proletin der Weiblichkeit“ handelt, die sich für nichts mehr entschuldigen muss, nicht für ihre Wildheit, Grobheit, Brutalität. Es ist die dramaturgische Brücke zu Peaches – und sie trägt.

Die folgenden 25 Minuten sind nichts Anderes als ein perfekter Peaches-Auftritt in gleißendem Licht, mit Multi-Busen und karnevalesk tanzenden Vagina-Figuren: Postpunkbusiness, den Fans von Peaches gut bekannt – und manchmal muss man die Analogien von „Dick In The Air“ bis „Fuck Your Pain Away“ zu den „Todsünden“ schon an den langen Schamhaarbärten herbeiziehen, die aufgefahren werden. „Offenbar eine bewusste Provokation“, wie die „Bild“-Zeitung am Samstag gefolgert hatte, um ein paar Seiten zuvor die Bild-Girl-Wahl des Jahres mit der obligatorischen Busenparade einzuleiten – und am Ende ist es just dieser penetrant männliche Blick, das Stiere, Dumpfblöde, gegen das Peaches seit Jahrzehnten im Musikgeschäft revoltiert und Blitze nicht nur aus den Augen entgegenschleudert. Dass die Künstlerin damit jetzt im Staatstheater angekommen ist, mag man wohlfeil finden, lässt sich aber auch als Erfolg buchen. Peaches hat sich eine Welt erobert, die Anna vor fast hundert Jahren verschlossen bleiben musste, und bricht ein System auf, für das, zumindest in der Oper und beim Ballett, die Frauenopferrolle konstitutiv ist.

Und dann nach Peaches nochmal ein kühner Sprung: Zusätzliche Verklammerung durch eine vierte dramaturgische Spange erfährt der Abend durch die gleichzeitig sanft entrückte wie entschieden harmonisch querliegende Schlussmusik von Charles Ives. Zu „The Unanswered Question“ nimmt Melinda Witham eine Wanderung auf, als rekapituliere sie ihr Leben als Frau und fühle nochmal einigen der Grenzen nach, die Peaches vorher so gekonnt und sexuell autonom eingerissen hat. Witham streckt die Arme aus und spreizt die Hände, als prüfe sie den Widerstand von Wänden und ob sie jetzt, am Schluss, wohl frei sei. Nicht verführt, nicht geführt, nicht benutzt, nicht verkannt: sondern sie selbst. Darüber wird es dunkel, aber wer will, sieht nach Annas Fall und Annas Aufstieg schon ein bisschen klarer. Selbst für Stuttgarter Verhältnisse: außerordentliche Ovationen.