Die Autorinnen des Buchs „Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat“ blicken im Esslinger Jazzkeller auf DDR, Wende und die heutige politische Lage im Land. Eine Lesung mit soziologischem Anspruch, Achselhaaren und Alkohol.
Ostdeutschland polarisiert. Einerseits gelten die längst nicht mehr neuen Bundesländer als politische Schmuddelkinder, als Hochburgen des Rechtsextremismus. Andererseits wird nach AfD-Wahlerfolgen stets fehlendes westdeutsches Verständnis für abgehängte Wendeverlierer kritisiert. Mitten in diesem Spannungsfeld bewegt sich das Buch „Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat“ (Hanser, 2024), dessen drei Autorinnen beim Lesart-Festival im ausverkauften Jazzkeller zu Gast waren.
Bei der Lesung entwickelt sich ein nuancierter Blick, der sich weder auf Verteufelung noch auf Verherrlichung ostdeutscher Identitäten reduzieren lässt. Eine Moderation benötigen die Schriftstellerin Annett Gröschner, die Dramaturgin Peggy Mädler sowie die Künstlerin und Sozialwissenschaftlerin Wenke Seemann nicht, stellen sie auf der Bühne doch die Gesprächssituation aus dem Buch nach. Neben kürzeren Erzähl- und Erklärpassagen besteht das Werk hauptsächlich aus Unterhaltungen, die die drei Frauen aufzeichneten. „Wir sollten uns die Nächte um die Ohren schlagen und über den idealen Staat nachdenken. Soweit der Auftrag und das Klischee“, heißt es zu Beginn.
Muffiges Deo bei der Esslinger Lesart
Klischees sind ein erstes strukturierendes Thema. Die Autorinnen nehmen das stereotype Bild der pragmatischen Ostfrau – angeblich arbeitet sie gerne und hat ein natürliches Verhältnis zu ihrem Körper – aufs Korn. „Ostfrauen riechen nach Action-Haarspray und dem Schweiß ihrer Achselhaare“, sagt Mädler. An dieser Stelle steht sie auf, präsentiert ihre eigenen Achselhaare und versprüht muffiges Deo im Jazzkeller. „Für den immersiven Effekt“, fügt sie hinzu.
Ebenso wie Gröschner und Seemann ist Mädler in der DDR aufgewachsen. Heute leben die drei Freundinnen in Berlin. Die Thesen, die sie in ihren durchzechten Nächten diskutieren, gehen humorvoll von konkreten persönlichen Erfahrungen aus, erschöpfen sich dabei aber nicht im Anekdotischen. So ist zum Beispiel ein Kapitel, das vom ostdeutschen Transformationsprozess nach der Wende handelt, intensiv mit Daten und soziologischen Theorien angereichert.
Bei Lesung wird weibliche Perspektive sichtbar
Zwar sind die drei Autorinnen bei weitem nicht die ersten, die den „rasanten Übergang von einer Ökonomie in eine andere“ (Seemann) problematisieren. Sie machen dabei jedoch eine spezifisch weibliche Perspektive sichtbar, die in dieser Form bislang kaum thematisiert wurde. So fallen Gröschner etwa „die in der DDR geschiedenen Frauen ein, die, um es mal salopp zu sagen, bei der Wiedervereinigung mal so richtig die Arschkarte gezogen hatten.“ Der Grund: der Wechsel in das bundesdeutsche Rentensystem, in dem ihnen durch einen anderen Umgang mit Scheidungen bis heute deutlich weniger Geld bleibt.
Stellenweise wirkt das Buch wie eine kulturell-historische Ausgrabungsarbeit. Zum Vorschein kommen DDR-Frauenzeitschriften, Filme über Fabrikarbeiterinnen oder das Schicksal der Gewerkschafterin Agnes Wabnitz. Die Mischung ist so bunt wie die Bowle, die Mädler mitten in der Lesung mit Sekt, Wein und Dosenfrüchten anrührt und an das Publikum ausschenkt. Mehrmals beziehen sich die Autorinnen auf die „Schwerkraft der Verhältnisse“. Ihr Buch mit seinem launigen Konzept lässt sich als Versuch deuten, gegen diese Schwerkraft anzukämpfen.