Es war ein Zufall, dem die Welt die Entdeckung des Penicillins vor fast 100 Jahren verdankt. Fast zufällig scheint es auch, wenn heute bei vielen Menschen im Arztbrief oder der Patientenakte der Zusatz „Penicillin – Allergie (Ausschlag)“ festgehalten ist. „Denn in den meisten Fällen stimmt das gar nicht“, sagt Jörg Latus, Chefarzt für Allgemeine Innere Medizin und Nephrologie am Robert Bosch Krankenhaus in Stuttgart. Dieser kleine Eintrag kann jedoch große Folgen haben.
Denn was bringt die Menschen in aller Regel um? „Die häufigste Todesursache in Deutschland sind Krankheiten des Kreislaufsystems, zu denen Herzinfarkte und Schlaganfälle gehören, sowie Krebserkrankungen“, erklärt Latus. „Doch oft werden uns eben auch winzig kleine, fiese Erreger gefährlich“, fügt er hinzu. Weltweit sterben jedes Jahr etwa eine Million Menschen an bakteriellen Infektionen, zum Beispiel der Atemwege, des Bauchraums oder an Sepsis (Blutvergiftung).
Bis zu 10 Prozent glauben, sie hätten eine Penicillin-Allergie
Antibiotika sind das Mittel der Wahl, um Infektionen zu behandeln, die potenziell lebensbedrohlich werden können. Häufig kommt dann ein Penicillin-Antibiotikum zum Einsatz. Doch da viele Patienten inzwischen angeben, allergisch darauf zu reagieren, verzichten Ärzte in diesen Fällen vorsichtshalber auf den Einsatz des Mittels. „Bis zu 10 Prozent der Bevölkerung glauben, dass sie allergisch gegen Penicillin sind“, so Latus. Etwa, weil sie nach der Einnahme Hautausschlag oder Durchfall bekommen haben. Weil ihnen das die Eltern erzählt haben. Weil das angeblich „in der Familie liegt“. Oder weil es schlichtweg in ihrer Akte steht – alles häufig fälschlicherweise. Die Realität sieht anders aus: „90 bis 95 Prozent der vermeintlich Betroffenen haben gar keine Allergie“, klärt Latus auf. Studien haben dies bestätigt. Trotzdem werde in solchen Fällen nie wieder Penicillin verabreicht.
Statt Penicillin-Antibiotika mit Wirkstoffen wie Amoxicillin, Ampicillin, Penicillin V und Penicillin G, die in aller Regel hochwirksam und gut verträglich sind, erhalten die Patienten dann Antibiotika anderer Substanzklassen – „und die sind teils weniger effektiv, mit stärkeren Nebenwirkungen verbunden und teurer“, fügt Latus hinzu. Für den RBK-Chefarzt ist somit klar: „Wir müssen dringend von dieser Fehletikettierung wegkommen.“ Es sei „eine große Aufgabe, diese falschen Angaben aus den Köpfen der Menschen und aus ihren Akten“ zu entfernen.
Falscher Einsatz von Antibiotika führt zu Resistenzen
Ein weiteres Problem: Der vermehrte – und meist unnötige – Einsatz von Reserve- und Breitbandantibiotika, die gegen viele Erreger gleichzeitig wirken, kann Resistenzen fördern. Genauso wie die zu häufige Verordnung von Antibiotika, die falsche Dosis und falsche Therapiedauer, der breite und unkritische Einsatz in der Tierzucht sowie belastete Abwässer in der Arzneimittelindustrie.
Mit der Zeit droht die Wirksamkeit von Antibiotika abzustumpfen, denn immer mehr Bakterien werden unempfindlich gegen gängige Mittel. Jede sechste laborbestätigte bakterielle Infektion ist bereits resistent gegen Antibiotika, warnte kürzlich die Weltgesundheitsorganisation WHO. Das bedeutet: Es wird immer schwieriger, bestimmte Infektionen zu behandeln. Die WHO spricht von einer Bedrohung für die globale Gesundheit.
Schon mit Nachfragen kann man eine Penicillin-Allergie ausschließen
„Schon allein deshalb wäre es sinnvoll, auch bei vermeintlichen Allergikern Penicillin einzusetzen“, sagt Jörg Latus. Was also tun? Der erste Schritt: „Ärzte sollten bei der Angabe ‚Penicillin-Allergie‘ in jedem Fall hellhörig werden und das kritisch hinterfragen. Gleiches gilt für alle, die den Hinweis in ihren Akten oder Köpfen haben.“ In den vergangenen Jahren hätten sich viele Fachleute überlegt, wie man Fehlinterpretationen ausschließen könne.
Inzwischen gebe es standardisierte Fragen, die zunächst gestellt werden sollten: Wie lange ist die vermeintliche allergische Reaktion her? Lag ein schwerer Ausschlag vor, etwa mit heftigen Ödemen – oder nur ein paar wenige rote Flecken? War eine Behandlung der Reaktion notwendig, oder klang sie spontan ab?„Ist dem Patienten die Zunge dick angeschwollen, wurde ihm schwindelig, oder hatte er schwere Atembeschwerden, handelt es sich natürlich um eine Allergie“, erläutert Latus. Doch Symptome wie Kopfschmerzen, Übelkeit, Juckreiz und Durchfall seien in aller Regel Nebenwirkungen – und keine Allergie. „Schon die Anamnese kann somit in vielen Fällen dazu beitragen, eine Allergie ziemlich sicher auszuschließen.“
Noch immer werden Antibiotika zu oft und falsch verordnet
Sind die Patienten in einer Klinik, also überwacht, kann Penicillin auch direkt oral gegeben werden – sofern aufgrund der vorherigen Fragen ein geringes Risiko vorliegt. „Etwa in der Zeit, in der sie ohnehin auf eine Behandlung warten“, so Latus. Passiert nichts, besteht kein Anhalt, dass eine Allergie vorliegt. Zudem gebe es Hauttests, die bei weiteren Unklarheiten von einem Facharzt für Allergologie durchgeführt werden können. „Das sind alles einfache, kostengünstige Möglichkeiten“, fasst der Nierenexperte zusammen. „Und sie führen dazu, dass die guten alten Therapien wieder verstärkt genutzt werden können.“ Die anderen Mittel könnten derweil, so wie gedacht, als Notfallmedikamente zurückgehalten werden.
Das sogenannte Delabeling habe somit große gesundheitsökonomische Vorteile. Dennoch müsse parallel weiter nach neuen, wirksameren Antibiotika geforscht werden, so Latus. Und schließlich weist der RBK-Chefarzt darauf hin, bei der Gabe von Antibiotika generell zurückhaltend zu agieren: „Die Mittel werden immer noch zu häufig, zu lang und in falscher Dosierung verordnet.“ Zuweilen auch, wenn nicht mal klar sei, ob es sich um eine bakterielle oder eine virale Infektion handelt: „Gegen Viren richten Antibiotika aber nichts aus.“
Kleine Erreger, große Gefahr
Wirksamkeit
Antibiotika sind Medikamente, die bei bakteriellen Krankheiten eingesetzt werden. Sie töten Bakterien ab oder hemmen zumindest ihre Vermehrung. Die Mittel wirken jedoch nicht bei Infektionen, die durch Viren oder Pilze ausgelöst werden.
Resistenzen
Weltweit nehmen Resistenzen gegen Antibiotika zu. Das bedeutet, dass sie gegen die Bakterienstämme nicht mehr wirksam sind. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO war im Jahr 2023 schon jede sechste laborbestätigte bakterielle Infektion resistent gegen Antibiotika.
Auswirkungen
Es wird somit immer schwieriger, bestimmte Infektionen zu behandeln. Nach Schätzungen des Robert Koch-Instituts (RKI) in Berlin und des Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME) der University of Washington sind im Jahr 2019 allein in Deutschland fast 10 000 Menschen an einem resistenten Erreger gestorben. Laut WHO sind jedoch ärmere Länder und solche mit schwachen Gesundheitssystemen noch stärker betroffen.
Auslöser
Die Hauptursachen von Resistenzen sind unter anderem falsche Verordnungen durch Ärzte sowie die Fehleinnahme seitens der Patienten. Auch in der Massentierhaltung werden die Mittel im großen Stil eingesetzt. Durch den Verzehr gelangen dann auch resistente Bakterien aus Fleischerzeugnissen in unsere Körper. Zudem kommen Antibiotika etwa durch Gülle oder durch die Arzneimittelproduktion belastete Abwässer in die Umwelt und fördern dort ebenfalls Resistenzen.