Im Performance-Express von Stuttgart nach Paris unterhalten Künstler die Passagiere. Für ihre Darbietung dürfen Akteure kostenlos mitfahren.

Stuttgart - Es geht los, das T-Shirt fällt. "Ach du meine Güte", murmelt eine Frau. Eigentlich hat sie einen Fensterplatz, jetzt steht sie im Gang und beobachtet fasziniert das Spektakel vor sich. Dort, wo sich normalerweise Koffer stapeln, steht Marco Schmitt und schwitzt. Abwechselnd stemmt er zwei Reisetaschen, beide sind mit Steinen gefüllt. "Der braucht kein Fitness-Studio mehr", meint die Mitreisende und applaudiert. Weitere Zuschauer klatschen, sie lachen und machen Fotos. Die Stimmung in Wagen 17 ist ausgelassen.

Gerade seit einer Stunde ist der TGV unterwegs, aber die Zeit verfliegt. Die Zugfahrt hält, was sie verspricht: eine Reise der etwas anderen Art. Nur der Zielort steht fest: Es geht von Stuttgart nach Paris. Was bis dahin passiert, ist ungewiss. Die reguläre Bahn verwandelt sich, kaum hat sie den heimischen Bahnhof verlassen, in das Kunstprojekt Performance Express. Es ist die vierte Fahrt dieser Art, bei der verschiedene Künstler ihre Mitreisenden mit diversen Programmpunkten überraschen.

"Es muss Abwechslung dabei sein."


Ausgedacht hat sich das Konzept der koreanische Künstler Byung Chul Kim, der an der Stuttgarter Hochschule studiert. Bei einem Projekt der Stadt Saarbrücken hat er die Idee mit dem Performance Express entwickelt. "Eigentlich war es ein Stadtprojekt, das dann erweitert wurde", sagt Kim. In Deutschland, Luxemburg und Frankreich ist der Zug nun unterwegs, unterstützt vor allem durch das französische Bahnunternehmen SNCF. "Es geht darum etwas sehr Touristisches aufzugreifen und zu durchbrechen", sagt Kim. Ein klassischer Rahmen solle neu gestaltet werden.

Je nach Auftritt wählt er die Performer aus. "Es muss Abwechslung dabei sein. Etwas zum Anschauen, etwas zum Zuhören." Für die Bewerber ist eine Fahrt im Performance Express verlockend: Sie bekommen nicht nur eine Plattform für ihre Darbietung, sondern auch eine kostenlose Reisegelegenheit. "Das Prinzip ist einfach: Statt mit Geld bezahlen die Künstler mit Kunst", erklärt Kim. Nach dieser Devise hat er auch ein Jahr lang das Performance Hotel in Stuttgart geführt. Für ein Lied oder ein Gedicht gab es eine Übernachtung gratis. "Im Performance Hotel kamen die Künstler zu mir. Jetzt gehe ich mit den Künstlern hinaus", sagt Byung Chul Kim.

Aufmerksam verfolgt er die Reaktionen der Reisenden. Nicht jeder hat das Ticket für den Performance Express bewusst gelöst - abgesehen von der 46-köpfigen Reisegruppe der Agentur für Kunstvermittlung, die zur Monet-Ausstellung im Grand Palais will, weiß keiner der Passagiere, was um ihn herum geschieht. "Erlauben Sie", sagt Yvonne Engelhardt und küsst eine ältere Dame völlig unvermittelt auf die Wange. "Merci", sagt die und strahlt. Ein bisschen irritiert sei sie erst gewesen, aber eigentlich fände sie die Abwechslung gut. Mit der Aktion ist Engelhardt dem Auftrag eines Fahrgastes nachgekommen: Sie sollte Küsschen verteilen. Kurz davor war sie Bier holen, hat getanzt und lag im Gepäcknetz. "Ich schließe mit den Leuten eine Art Vertrag. Sie geben mir eine schriftliche Aufgabe, ich fordere dann auf der Rückfahrt etwas ein."

Das Leib-Seele-Problem und "Für Elise"


Hinter ihr drängt sich Anna Kreysing vorbei. Bis zum Abend will sie hundert Thesen zum Leib-Seele-Problem sammeln. Mit Plakat und Filzstift führt sie den Philosophiediskurs im Abteil. "Also, das ist mir jetzt ein bisschen zu anstrengend", wehrt jemand ab. Man sei doch auf dem Weg nach Paris, ob es nicht weniger schwere Kost gebe? In diesem Moment ertönt "Für Elise" aus einem kleinen Lautsprecher. Manuel Scheiwiller hat ihn an eine kleine Spielorgel angeschlossen. "Wissen Sie, dass ist jetzt nicht Kunst, das ist einfach nur schön", lässt er seine Zuhörer wissen. Die bekommen sogleich seine Biografie in die Hand gedrückt, einige Exemplare ziert ein pinkfarbener Kussmund der Performerin Lilli. Mit Wallemähne und rosa Kleidchen flaniert sie als leichtes Mädchen durch die Abteile und begleitet zudem die Ausführungen des Gewichthebers Marco.

Lautstark debattiert der über "the culturists and the tourists". "Oder sind Sie ein difficult tourist, ein difficulturist?", fragt er. Eine Frau ist pikiert, schon die Aktion mit freiem Oberkörper hat sie empört. "Nehmen's Sie es nicht persönlich, das ist doch eine Performance", sagt der Künstler versöhnlich. Dabei müsste die Dame doch als Teil der eingeweihten Reisegruppe eine größere Kunsttoleranzgrenze besitzen.

"Die Auftritte müssen nicht immer gefallen", sagt Kim, "der Diskurs ist wichtig." Gesprächsmaterial liefern die Künstler reichlich. Welcher war der angenehmste Auftritt? Haben Sie die Lesung schon mitbekommen? Dann müssen sie mal ins nächste Abteil. Dort liest die Performerin Alice Gedichte zur Herbstzeit vor. "Von wem sind die nochmal?", will eine Dame wissen. "Von mir", sagt die Künstlerin. Die gewünschten Zugaben wird sie abends auf der Heimfahrt liefern. Nach einem anstrengenden Tag in der überfüllten Monet-Ausstellung und einem Blitzbesuch im Centre Pompidou versprechen die Performer eine angenehme Heimfahrt. "Ich lese jetzt "Das gläserne Eiscafe", sagt Alice. "Wunderbar", sagt eine Kunstfreundin und lehnt sich zurück. Die Rückfahrt beginnt.

Die nächste Reise
im Performance Express plant die Agentur für Kunstvermittlung für den 22. Januar. Kontakt unter www.performanceexpress.wordpress.com »