Häuser geraten ins Rutschen, Pipelines verlieren ihr Fundament – eine Konferenz in Montreal befasst sich mit der Erwärmung der Arktis.

Montreal - Die Rentierherden der Nenzen in Sibirien müssen sich neue Wanderwege und Weidegründe suchen, weil der Boden auftaut und zu nass wird. Pipelines brechen, weil sie nicht mehr auf solidem Grund stehen. Der Permafrostboden in der Arktis taut. „Das hat gewaltige Auswirkungen in vielen Bereichen“, sagt Hans-Wolfgang Hubberten. Der Wissenschaftler ist Präsident der Internationalen Permafrost Vereinigung und arbeitet am Bremerhavener Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI). Zu diesen offensichtlichen Folgen kommt eine weitere Konsequenz: die Freisetzung klimaschädigender Treibhausgase.

 

Noch vor wenigen Jahren war das Interesse an den Entwicklungen in den Permafrostregionen gering. Dies hat sich geändert. Im Polarjahr 2007/2008 war das Thema ein Forschungsschwerpunkt. Auf der Konferenz „Internationales Polarjahr 2012“, die derzeit in Montreal stattfindet, sind die Veranstaltungen zum Permafrost ausgebucht. „Es ist uns gelungen, dem Permafrost die Bedeutung zuzuweisen, die er hat“, meint Hubberten. „Wir hatten noch nie auf einer internationalen Konferenz ein so starkes Interesse an Permafrost“, sagt sein AWI-Kollege Hugues Lantuit.

„Spektakuläre Veränderungen“

Von Permafrost spricht man, wenn die Temperatur des Bodens mindestens zwei Jahre in Folge bei 0 Grad oder darunter liegt. Die oberste Schicht, die sogenannte Auftauschicht, ist im Winter gefroren und taut im Sommer auf. Sie kann einige Zentimeter bis wenige Meter dick sein. Darunter beginnt der permanent gefrorene Boden. Wie tief er geht und wie kalt er wird, hängt von den geologischen und klimatischen Bedingungen ab. Dabei kann die Permafrostzone mehr als 1500 Meter dick sein.

Die Fachleute unterschieden zwischen Zonen kontinuierlichen Permafrosts, in denen 90 bis 100 Prozent des Untergrunds gefroren sind, diskontinuierlichen (50 bis 90 Prozent) und sporadischen Permafrosts (unter 50 Prozent, siehe Grafik). So gibt es in Deutschland ein etwa ein Quadratkilometer großes Permafrostgebiet auf der Zugspitze. Geschätzt wird, dass etwa 25 Prozent der Landmasse der nördlichen Hemisphäre, 23 Millionen Quadratkilometer, Permafrost aufweisen.

Der Klimawandel verändert die Permafrostregionen. „Wir sehen spektakuläre Veränderungen der Erdoberfläche. Die Auftauschicht geht immer tiefer“, sagt Lantuit. Der Prozess zeigt sich in Änderungen der Vegetation in Tundra und Wäldern, dem Verlust von Seen, deren Wasser versickert, und dem Abrutschen von Hängen. Die Permafrostgrenze und die Grenze zwischen kontinuierlichem und diskontinuierlichem Permafrost wandert nach Norden.

Vladimir Romanovsky, Professor für Geophysik an der Universität von Alaska in Fairbanks, berichtete auf der Montrealer Konferenz von diesen dramatischen Veränderungen in Alaska und Russland. „Etwa um 2005 wurde für zwölf Gemeinden Alaskas eine Umsiedlung erwogen, weil der Boden auftaut. Heute dürften es deutlich mehr sein.“

Probleme für Küsten und Pipelines

Betroffen sind Gemeinden an Flüssen im Landesinneren, vor allem aber Siedlungen an der Küste. Die Küstenerosion verstärkt sich durch zwei Faktoren: Der Rückgang des Meereises führt dazu, dass das Meer bewegter ist und die Wellen heftiger gegen die Küste schlagen – und die verliert gleichzeitig durch das Tauen des Permafrosts an Stabilität. Eines der drastischen Beispiele ist die Gemeinde Shishmaref nördlich der Beringstraße: Dort stürzte ein Haus ins Meer, nachdem der Boden darunter weggespült worden war. In Tuktoyaktuk in Nordkanada muss die Küste mit Betonklötzen befestigt werden.

Probleme entstehen auch für die Öl- und Gasindustrie, etwa für die Pipelines, die Gas aus Russland nach Zentraleuropa bringen. Es gebe Hinweise, dass ein großer Teil der Störungen mit den Veränderungen im Permafrost zu tun haben, sagt Romanovsky. Auch hier wirken mehrere Faktoren: Der Klimawandel fördert das Auftauen, aber auch die Bauwerke selbst erzeugen Wärme. Und wenn beim Bau von Industrieanlagen die oberste Bodenschicht entfernt wird, hat dies Folgen für die Stabilität des Permafrostbodens. Eine Studie von Lloyd’s of London und Chatham House hat gezeigt, dass der Klimawandel nicht nur die Arktis für wirtschaftliche Nutzung öffnet, sondern tauender Permafrostboden und kürzere Frostperioden den Zugang zu Gemeinden und Industriestandorten erschweren und die Kosten erhöhen.

Über all dem liegt der drohende zusätzliche Ausstoß an Treibhausgasen. Im Permafrostboden lagert Kohlenstoff, gebunden in Bodenpartikeln wie Sand und Erde oder in Pflanzen. „Etwa 50 Prozent des im Boden gespeicherten organischen Kohlenstoffs befindet sich in Permafrostboden“, sagt Hubberten. „Er war dort bisher isoliert wie in einer Tiefkühltruhe. Jetzt, da das Tauen beginnt, wird Kohlenstoff frei und zu Kohlendioxid oder Methan umgesetzt.“ Hubberten bezeichnet diese Entwicklung als „zusätzlichen Tritt für das Klimasystem“, denn die Freisetzung der Treibhausgase werde das Erreichen der Klimaschutzziele erschweren. Die Menge des im Permafrostboden liegenden Kohlenstoffs ist doppelt so groß wie die Kohlenstoffmenge, die sich gegenwärtig in Form der Treibhausgase CO2 und Methan in der Atmosphäre befindet, berichtet die International Permafrost Association. „Durch die Erwärmung wurde bereits ein Prozess in Gang gesetzt, der zusätzlich Wärme bringt“, sagt Hubberten.

Die Bedeutung der Permafrostforschung steigt. Die EU startete im November das Projekt „Page 21“ (Permafrost in the Arctic and its Global Effects). Neun Millionen Euro werden für das internationale Forschungsprojekt ausgegeben. Es soll eine Antwort auf die Frage bringen, was geschehen könnte, wenn riesige Mengen Kohlenstoff aus den arktischen Böden in die Atmosphäre entlassen werden.