Die Bilder vom Protest der Prominenten gegen die Pershing-Raketen im September 1983 sind längst ein Teil der Zeitgeschichte geworden. Vieles davon findet sich heute bei den Stuttgart-21-Demonstranten wieder.

Politik/Baden-Württemberg: Rüdiger Bäßler (rub)

Mutlangen - Die amerikanischen Soldaten, die während ihrer Stationierung im mittelalterlich geprägten Schwäbisch Gmünd sonst immer ein „good old Germany“ wie aus dem Katalog genossen, konnten sich nicht erklären, was da plötzlich passierte. Die gewohnte Atmosphäre von freundlicher Gelassenheit bei Einkäufen oder Spaziergängen während der Freizeit war einer aggressiven Stimmung gewichen, die sich bald nicht nur in Demonstrationen Luft machen sollte, sondern auch in Sabotageakten. Man war hier, so die Wahrnehmung, um die Deutschen vor dem Sowjetreich zu schützen – und wurde plötzlich dafür beschimpft. In der damaligen Bismarck-Kaserne untersagte die US-Armeeführung den Soldaten schließlich jeden Kontakt zu den Demonstranten. Auf Gewaltanwendung, auch das gehörte zu den Anweisungen, sei ebenso zu verzichten.

 

Es war der Beginn der 80er Jahre, und wogegen die immer zahlreicher werdenden Demonstranten draußen vor den Kasernentoren vorgingen, das waren eigentlich nicht die US-Soldaten, sondern die eigene Furcht vor einer atomaren Kriegsbedrohung, die nach einer langen Phase des Wettrüstens so groß schien wie nie zuvor. Hinter dem Eisernen Vorhang standen die sowjetischen Mittelstreckenraketen vom Typ SS-20, und auf der Mutlanger Heide, über Schwäbisch Gmünd gelegen, lagerten in Bunkern die Gegenstücke namens Pershing-II. Weg damit, schrien die Demonstranten jetzt.

Konfliktlösung keinesfalls mit Gewalt

Gewalt, lautete das allgemeine Kredo, kann kein Mittel zur Lösung von Konflikten sein, auch nicht von großpolitischen. Das ökumenische Friedenscamp von 1983 auf der Mutlanger Heide gebrauchte dafür bald noch ein anderen prägenden Satz: „Das weiche Wasser bricht den Stein.“

Nicht alle Demonstranten waren dieser Meinung; Flugblätter zu verteilen, Menschenketten zu bilden und Kerzen in die Höhe halten war einigen zu wenig, so beispielsweise einer vierköpfigen „Pflugschargruppe“, die am 4. Dezember 1983 in die Gmünder Hardt-Kaserne eindrang und mit Hammer und Bolzenschneider einen Lastzug der US-Truppen mutwillig beschädigte. Unbekannt sind die Attentäter, die im Jahr 1986 sämtliche 30 Gänse meuchelten, die von den Amerikanern zur Bewachung des Raketengeländes eingesetzt wurden.

Wer in den Geschichten von damals blättert, erkennt manches wieder, was sich auch im Massenprotest gegen Stuttgart 21 zeigte, zum Beispiel den Versuch, moralischen Druck durch die Aufbietung berufsgruppenspezifischer Demonstrantengruppen zu erzeugen. Im Verlauf der Mutlanger Protestjahre gab es beispielsweise eine Ärzteblockade, eine Staatsanwälteblockade, eine Konzertblockade oder eine Blockade ehemaliger KZ-Häftlinge. Es gab, obwohl SMS-Nachrichten und via Internet abgespielte Livefernsehszenen noch unbekannt waren, ein Alarmsystem bei Start eines beginnenden Raketentransports. Und natürlich fehlten nicht die Prominenten.

Bilder der Blockade als Teil der deutschen Zeitgeschichte

Die Mutlanger Promiblockade dauerte vom 6. August bis 4. September 1983, ihre Bilder sind Teil der deutschen Zeitgeschichte geworden: die Grüne Petra Kelly, auf dem Kopf einen Stahlhelm, in dessen Tarnnetz Blumen stecken; Oskar Lafontaine (damals noch SPD); Heinrich Böll mit Gehstock und Baskenmütze; Walter Jens inmitten einer Sitzblockade; Günter Grass, Pfeife rauchend eine Kaserne entlangschreitend. Die Prominenten brachten der Protestbewegung eine Menge Presse, aber auch internen Ärger. Eigentlich hatte damals die Regelung gegolten, dass sich Raketentransporten nur entgegenstellen sollte, wer ein spezielles vierwöchiges Training absolviert hatte. Für Grass & Co. wurde dann eine Ausnahme gemacht, was innerhalb der Raketengegnerschaft, in der sich christliche Gruppen, aber auch politische Gruppierungen wie die DKP gesammelt hatten, umstritten war.

Die Journalisten fanden ein Plätzchen für ihre Berichte in der „Pressehütte“, die es bis heute gibt und wo der Verein Friedenswerkstatt Mutlangen – mit aktualisierten Zielen – nach wie vor zu Hause ist. Im Obergeschoss standen damals Schreibmaschinen, sechs Telefone und ein Drucker für Flugblätter, aber kein Computer. Die Hütteninitiatoren rechneten stets mit Razzien und lehnten jede Speicherung von Dokumenten oder Namen auf Festplatte deshalb ab. Toiletten gab es anfangs auch nicht, und Journalisten, die bei schlechtem Wetter nach langem Ausharren gehofft hatten, im Innern etwas Ordentliches zu trinken zu bekommen, konnte es passieren, dass sie sich stattdessen in einem Sitzkreis wiederfanden, wo man sich an den Händen fasste, um sich gemeinsam zu finden.

1987 begannen die Frontlinien des Kalten Krieges zu bröckeln

Ohne Grund war das damals herrschende Gefühl, man müsse sich gut aneinander festklammern, nicht entstanden. Ehrbare Bürgersleute, die finstere Vermutungen über die Vorgänge im Innern der Pressehütte hegten, drohten einmal damit, den Holzbau anzuzünden. Auch sonst fehlte es nicht an Anfeindungen aus bürgerlich-konservativen oder proamerikanischen Lagern. Hartnäckig kolportierte sich das Gerücht, Teile der Friedensbewegung in Mutlangen würden von der DDR über verdeckte Spenden finanziert werden.

Harte Beweise dafür gibt es bis heute nicht, aber wenn es ostdeutsche oder sowjetische Hilfe für die kommunistischen Gruppen in der Friedensbewegung gegeben haben sollte, dann hat sie jedenfalls nicht viel gefruchtet, sofern dahinter die Hoffnung gesteckt haben sollte, das Denken in der Bundesrepublik umzulenken. Die DKP beispielsweise verzeichnet während der gesamten 80er Jahre keine nennenswerten vermehrten Parteieintritte.

Am 8. Dezember 1987 bröckelten endlich die Frontlinien des Kalten Krieges. Ronald Reagan und Michail Gorbatschow unterzeichneten den INF-Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces), wonach beide Seiten sich verpflichteten, ihre sämtlichen atomaren Raketen kürzerer und mittlerer Reichweite innerhalb von drei Jahren zu vernichten. Zwischen 1988 und 1991 wurden alle Pershing-Einheiten aus Deutschland abgezogen. Es war vorbei in Mutlangen. Es war geschafft.

Die Änderung des Denkens der politischen Klasse ist nachhaltig

Nur Narren streiten heute ab, dass der Protest von Mutlangen zum Umdenken der feindlich gesinnten Großmächte von damals nichts beigetragen hat. Der lange Schrei der Straße hat nachhaltig gewirkt und zu einer Änderung des Denkens der politischen Klasse beigetragen. Diese Erfahrung wiederholte sich im Protest gegen Stuttgart 21, wo sich übrigens die Mechanismen des organisierten Widerstands verblüffend ähneln. Es liegt wohl auch daran, dass manche Protagonisten der Achtziger ihre Rezepte von Mutlangen mit nach Stuttgart gebracht haben.