Sportliches Talent, Intelligenz – viele Eigenschaften haben eine starke genetische Komponente. Lässt sich durch Erziehung und Training daran noch viel ändern? Bei einem Vortrag in Stuttgart gibt der Genetiker Martin Reuter eine Antwort.

Stuttgart - Eigentlich sind Mäuse gesellige Tiere. Sie beschnuppern einander und kuscheln gern. Bei aller Neugier, den Käfig zu erkunden, verbringen sie doch viel Zeit gemeinsam. Aber nach zehn Tagen mit einem kräftigen und aggressiven Männchen als Nachbarn sieht die Welt anders aus. Nicht alle, aber doch drei von vier Versuchsmäusen waren nach diesem Experiment wie ausgewechselt und mieden alle unbekannten Artgenossen. Bei ihnen hatte sich auch im Erbgut etwas verändert: Das Gen mit dem Kürzel Crf wurde viel häufiger aktiviert als bei den Mäusen, die sich vom aggressiven Männchen nicht nachhaltig beeindrucken ließen. Ein überaktives Crf-Gen geht mit einem Überangebot an Stresshormonen einher.

 

Für den Psychologen und Genetiker Martin Reuter von der Universität Bonn ist dieses Tierexperiment eines Kollegen der Ausgangspunkt für eine Studie mit Menschen: Er will prüfen, ob auch Menschen in ähnlicher Weise auf Stress reagieren, und ob vor allen Dingen ein Burnout die Aktivität der Gene verändert. Reuter will auch verstehen, warum manche Menschen mit Freude zwölf Stunden am Tag arbeiten, während dies andere überfordern würde. „Sind die Einflussfaktoren erkannt, können sie vorbeugend oder therapeutisch genutzt werden“, heißt es in der Beschreibung der Daimler-und-Benz-Stiftung, die dieses Projekt mit 260 000 Euro fördert.

Da lag es nahe, Martin Reuter als Referenten in die Reihe „Dialog im Museum“ einzuladen. Am Donnerstagabend hat er sich im Mercedes-Benz-Museum die Frage gestellt, ob die Gene unser Schicksal sind. Das Experiment mit den Mäusen deutet schon an, dass sie nicht mit einem klaren Ja oder Nein beantwortet werden kann, denn die Aktivität der Gene wird durch die Umwelt verändert. Untersuchungen an Zwillingen ergeben zwar klare Zahlen: Typischerweise sind Eigenschaften wie Intelligenz und Geselligkeit zu 40 bis 50 Prozent durch die Gene bedingt, und zu 50 bis 60 Prozent durch Erziehung, Freunde, Schule, Berufsleben.

Doch wie genau sich Gene oder Umweltfaktoren auf das Verhalten auswirken, bleibt nach Jahrzehnten der Forschung im Dunkeln, und die neuen Erkenntnisse zur Veränderbarkeit des Erbguts, die unter dem Schlagwort „Epigenetik“ zusammengefasst werden, machen die Sache komplizierter. Die Frage, ob die Gene Schicksal sind, muss daher offen bleiben. Zuvor wäre zu klären, ob sich im Wust der Einflussfaktoren überhaupt ein Muster erkennen lässt.

Selbst das Vertrauen hat etwas mit den Genen zu tun

Reuter ist es schon in einzelnen Fällen gelungen, Zusammenhänge aufzudecken. Er hat zum Beispiel nachgewiesen, dass das Vertrauen, das man anderen Menschen entgegenbringt, eine genetische Komponente hat. Auch in diesem Fall baut er auf einer älteren Studie auf. Ein Team, zu dem auch der Psychologe Markus Heinrichs gehörte, der heute an der Universität Freiburg forscht, hatte Probanden um Geld spielen lassen: Einer bekam die Rolle des Investors zugelost und musste entscheiden, welchen Anteil seines Kapitals er an seinen Spielpartner, den Treuhänder, überweist. Die Rendite betrug garantierte 300 Prozent, und der Treuhänder allein entschied, wie viel er zurückzahlte. Die Spielpartner kannten sich nicht und kommunizierten per Computer miteinander, so dass sich die Investoren nicht beschweren konnte. Grund dazu hätten sie haben können, denn typischerweise strichen die Treuhänder die Rendite ein und zahlten nur den investierten Betrag zurück.

Die Pointe dieser Studie war, dass die Investoren geradezu vertrauensselig wurden, wenn sie zuvor eine Dosis Oxytocin bekommen hatten. Dieses Hormon, das auch Kuschelhormon genannt wird, fördert bei Präriewühlmaus-Paaren die Treue und regt bei jungen Müttern die Milchproduktion an. Fast die Hälfte der männlichen Investoren überließ ihrem Treuhänder das ganze Kapital, nachdem sie Oxytocin bekommen hatten, und lief Gefahr, leer auszugehen. Martin Reuter interessiert jedoch ein anderer Effekt: auch 20 Prozent der Versuchsteilnehmer, die zu Vergleichszwecken kein Oxytocin erhielten, vertrauten dem anonymen Treuhänder so sehr, dass sie das ganze Kapital hergaben. Auch dieses Verhalten habe etwas mit Oxytocin zu tun, sagt Reuter – und zwar mit der körpereigenen Produktion des Hormons.

Da Oxytocin im Gehirn hergestellt wird, hat Reuter Gewebeproben von 27 Epilepsie-Patienten untersucht, die bei Operationen entfernt worden waren. Er fand ein genetisches Muster, das charakteristisch ist für Menschen, die im Spiel bereit sind, alles zu investieren. Die Gene scheinen also einen Einfluss darauf zu haben, wie sehr man anderen Menschen vertraut.

Man muss alle Faktoren gleichzeitig im Blick behalten

Doch wie groß ist der Einfluss der Gene genau? Zwei Wochen zuvor hat Reuters Kollege Eric Turkheimer bei der Nationalen Akademie der Wissenschaften (Leopoldina) eine skeptische Haltung in dieser Frage vertreten: Obwohl es immer billiger und einfacher werde, das Erbgut zu entschlüsseln, mache man kaum Fortschritte, sagte der Psychologe von der Universität des US-Bundesstaats Virginia. Unter Verweis auf die Gene lasse sich bisher kaum ein Effekt erklären. Er glaube nicht, dass noch mehr Analysen das Problem lösen, sagte er und zeigte sich damit zurückhaltender als Martin Reuter. Denn Reuter gibt am Ende seines Vortrags zwar zu: „Es ist noch ein langer Weg.“ Er lässt aber keinen Zweifel daran, dass er ihn für vielversprechend hält.

Doch Eric Turkheimer zeigte zugleich, dass es ebenso wenig Sinn macht, sich auf einzelne Umweltfaktoren zu stürzen. Als mahnendes Beispiel zitierte er eine Studie von zwei US-amerikanischen Soziologinnen, die eine Datenbank mit persönlichen Angaben von mehr als 7000 Teilnehmern ausgewertet haben. Ihr Befund: Jugendliche werden eher straffällig, wenn sie schon früh zum ersten Mal Sex haben. Gut möglich, dass Jugendliche, die früh Sex haben, auch sonst ein Leben führen, das sie eher Grenzen überschreiten lässt. Das klingt für Laien nicht unplausibel, und Turkheimer zweifelt auch nicht an der Statistik. Doch er hat die Daten noch einmal analysiert und sich dabei auf die gut 500 Zwillingspaare in der Datenbank konzentriert. Dabei kam er zum umgekehrten Ergebnis: Der Zwilling, der als Erster Sex hat, wird mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit straffällig.

Unter Zwillingen gibt es weniger Unterschiede als unter zufällig ausgewählten Jugendlichen: Sie wachsen oft im selben Haushalt auf und teilen die Hälfte oder ihr ganzes Erbgut. Wenn beim Vergleich von Zwillingen ein anderes Ergebnis herauskommt als beim Vergleich von Jugendlichen, die nicht verwandt sind, dann ist das ein Hinweis darauf, dass noch weitere, bisher unbekannte Faktoren im Spiel sind.

Turkheimer glaubt daher nicht, dass ein frühes erstes Mal das Risiko erhöht, straffällig zu werden. Vor allem aber glaubt er nicht, dass es viel bringt, sich lange damit aufzuhalten, den Genen und der Umwelt einen präzise berechneten Anteil am menschlichen Verhalten zuzuweisen. Viel wichtiger sei doch, herauszufinden, wie Gene und Umwelt zusammenwirken.