London stellt sich quer und benennt keinen Kandidaten. EU-Juristen suchen Weg, mit dem es notfalls auch ohne einen Vertreter aus dem Vereinigten Königreich gehen soll.

Korrespondenten: Markus Grabitz (mgr)

Brüssel - Wann Ursula von der Leyen mit ihrer Kommission starten kann ist weiter ungewiss. Unklar ist zudem, ob ihre Kommission aus 27 oder aus 28 Mitgliedern bestehen wird. Noch ist zwar erklärtes Ziel der ersten deutschen Kommissionspräsidentin seit 50 Jahren, am 1. Dezember die Geschäfte aufzunehmen. Doch es tun sich zwei Probleme auf, die den Start auf Mitte Dezember oder auf Anfang nächsten Jahres verzögern könnten. Die EU weiß offenbar noch nicht so richtig, wie sie damit umgehen soll, dass das Vereinigte Königreich seiner Pflicht nicht nachkommt, einen oder zwei Kandidaten für die nächste Kommission vorzuschlagen.

 

Nur 27 Kommissare?

EU-Juristen prüfen gerade schwierige Fragen: Gibt es eine rechtliche Möglichkeit, nur mit 27 Kommissaren zu beginnen? Dem stehen die EU-Verträge entgegen: Sie legen fest, dass jedes Mitgliedsland einen Kommissar schicken muss. Wäre es möglich, diese Klippe zu umschiffen, etwa indem alle 28 Mitgliedsländer im Ministerrat für eine Lösung ohne britischen Kommissar stimmen? Oder ist wahrscheinlich, dass dann der Europäische Gerichtshof (EuGH) eine Kommission ohne britischen Kommissar für rechtswidrig erklärt?

Das wäre das Horrorszenario. Damit hätte sich die EU am politischen Chaos auf der Insel infiziert und müsste dafür bezahlen, indem die EU-Kommission handlungsunfähig würde. Bei all diese Fragen gibt es offensichtlich zwischen den Juristen im Rat, also dem Gremium der Mitgliedstaaten, und der Kommission keine einhelligen Meinungen. Die Kommission hat zunächst einmal ein Vertragsverletzungsverfahren gegen das Vereinigte Königreich eingeleitet. Der Grund: Die Regierung von Boris Johnson kam der zweimaligen schriftlichen Aufforderung durch Ursula von der Leyen, Kandidaten zu benennen, nicht nach. Zuletzt hatte London erklärt, im Hinblick auf die nahenden Parlamentswahlen am 12. Dezember sei die Regierung nicht dazu in der Lage.

Die Kommission reagierte umgehend und erinnerte daran, dass interne politische Probleme nicht als Begründung für das Brechen von EU-Verträgen akzeptiert würden. Die Kommission verweist darauf, dass die britische Bitte um abermalige Verschiebung des Austritts auf nunmehr Ende Januar von EU-Seite am 29. Oktober nur unter der Voraussetzung akzeptiert wurde, dass dies nicht dazu führen darf, dass „der geregelte Betrieb der EU und ihrer Institutionen untergraben werden“. Ausdrücklich sei zudem noch einmal festgehalten worden, das Vereinigte Königreich bleibe Mitglied mit allen Rechten und Pflichten „einschließlich der Verpflichtung, Anwärter auf den Kommissarsposten vorzuschlagen“. Die Kommission setzt London eine Frist bis 22. November für eine Antwort. Danach kann die Kommission die nächsten Schritte im Vertragsverletzungsverfahren einleiten, das eine Klage vor dem EuGH vorsieht und bei einer Verurteilung durch die EU-Richter zu Strafzahlungen führen kann. Ob London bis zum Ende des Vertragsverletzungsverfahrens, das mehrere Jahre dauern kann, noch Mitglied der EU ist, kann derzeit niemand voraussagen.

Orbans Kandidat hat Mühe

Es gibt ein weiteres Problem: So verschärfen sich die Komplikationen mit dem ungarischen Kandidaten für die nächste Kommission. Während die beiden anderen Anwärter, der Franzose Henry Breton für Industrie und die Rumänin Adina-Ioana Valean für Verkehr, auf Anhieb die Zustimmung der Abgeordneten bekamen, muss der Ungar Oliver Varhelyi nachsitzen. Die Abgeordneten befürchten, dass der ehemalige EU-Botschafter seines Landes in der Kommission zu sehr die Agenda des umstrittenen ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban verfolgt. Varhelyi, der für Erweiterung zuständig sein soll, hatte zwar beteuert, streng die EU-Agenda zu verfolgen. Er war aber trotz mehrfacher Nachfrage nicht bereit, sich von der Politik Orbans zu distanzieren. Der Ungar hat nun bis Montag Zeit, einen Fragenkatalog zu beantworten. Sollte es dann immer noch keine Zweidrittel-Mehrheit im Ausschuss für ihn geben, muss er in eine zweite Anhörung. Wenn er auch da durchfällt, müsste Ungarn einen dritten Kandidaten benennen. Von der Leyen hätte ein Problem mehr: An einen Beginn Anfang Dezember wäre gar nicht mehr zu denken.